Gava Meduna hatte ihr Haupt gesenkt, sah zuerst die mit langen Fängen versehenen Pranken, die einen menschlichen Kopf nur allzu leicht zu zerquetschen vermochten. Langsam hob sie ihren Blick. Nun wollte sie so sehr ihren Wilden Gott in all seiner einstigen Pracht und Stärke sehen, aber sie wusste, dass sie nun wieder nach noch mehr Anzeichen seines körperlichen Verfalls Ausschau halten würde. Das dicke Fell des Wilden Gottes glänzte in Grau und Schwarz, doch kahle Stellen hatten sich gemehrt. Alte Narben waren aufgebrochen, eiterten und bluteten. Seine kraftvollen Muskeln zeigten sich immer weniger, stattdessen traten Knochen unter dünner Haut hervor. Dreifach mannshoch war die Schulterhöhe. Ein gewaltiger, von einer dicken Mähne umkränzter Schädel reckte sich der Matrone entgegen. Gelbe Augen flackerten viel zu unstet. Gewundene Hörner krönten das Haupt. Das offene Maul war mit langen Zähnen bewährt. Geifer tropfte auf den Boden. Er röchelte, atmete schwer. Der Gestank des Verfalls begleitete ihn. Er zitterte. Alt wie er war, schwach wie er war. Nur noch ein Schatten dessen, was als gefürchtete und verehrte Legende galt. Wie sehr es Gava Meduna doch schmerzte, ihn so zu sehen. Und doch musste die Erzmatrone auch noch feststellen, dass der Große Vater Wolf seit ihrer letzten Begegnung sogar ein wenig geschrumpft sein musste.
Doch selbst in diesem Zustand vermochten die meisten Sterblichen den Anblick eines Wilden Gottes kaum zu ertragen. Für Ungezählte war Gorond das Letzte gewesen, was sie gesehen hatten, und manche hatte er noch nach ihrem Tod weiter gejagt. Aber nun konnte er kaum noch seine Höhle zu verlassen.
Jahrtausendelang war Gorond einer der mächtigsten der Wilden Götter gewesen. Er hatte Dämonen gehetzt und getötet, Schwarze Drachen erschlagen, hatte in den gewaltigsten Schlachten der Welt triumphiert, unzählige Widersacher der Allmutter in ihrem Namen vernichtet, Heere der Menschen zermalmt, hatte einst weite Teile des Geisterreichs und des Waldes der Welt beherrscht, rang sogar einmal mit dem Einen Feind jenseits der Grenzen von Raum und Zeit, aber jetzt, hier, stand auf zitternden Beinen ein verfallender Gott, der sein endgültiges Ende fürchten musste. Sie hoffte, dass wenigstens sein Geist nicht noch weiter geschwunden war. Zuletzt hatte er am Beginn der heiligen Audienz zum ersten Mal vergessen, wer überhaupt vor ihr stand. Der Große Vater Wolf starrte die Erzmatrone an, regungslos, mit leerem Blick.
Vieles galt es nun zur Sprache zu bringen. Der Krieg, der vom Osten herauf gegen die Reiche der Menschen zog, mit der Schnabelbrut auf dem Vormarsch. Der Erwählte Empfänger, der nach langer Suche endlich gefunden werden musste, damit durch diesen der Wilde Gott wiedergeboren werden konnte. Und da war noch der Geächtete im Exil, dessen Schicksal Erfüllung finden musste. Die Erzmatrone Gava Meduna sammelte ihren Geist und erhob das Wort an Gorond. Es sollte eine so lange wie erschreckende Unterredung zwischen Gott und Mensch werden.
Kapitel 1 - Der Geächtete
Grimme Tage waren dies in der Grenzprovinz Dimbrag, denn ein neuer Krieg war nah. Erste Spähtrupps der Skrael seien bereits mancherorts ins Land südlich des Langen Walls eingedrungen, so war die Kunde. Man hörte von verbrannten Dörfern, ermordetem Volk. Gewiss, der gesamte Heereswurm der Schnabelbrut war noch nicht auf dem Vormarsch und weiter gen Westen war es noch sicher, auch sammelten sich mehr und mehr Verbände der Imperialen Armee zur Verteidigung, aber der drohende Sturm von Kampf und Tod dämmerte mit jedem Tag mehr herbei.
Einige flohen schon dem üblen Schicksal für Dimbrag, welche gewiss als eine der ersten Provinzen fallen würde. In kleiner, doch stetig wachsender Zahl wanderten Flüchtlinge auf Straßen und Wegen in vermeintlichen Schutz und Sicherheit, der in der Provinzhauptstadt Andaheim, im inneren Königreich Talarun oder in noch weiterer Ferne verheißen war. Doch nicht nur Worte von brennendem, blutigen Untergang versetzte die Menschen in Angst, auch sei viel gar seltsames Volk in diesen Tagen auf den Straßen unterwegs. Manche mochten gar direkt mit Dämonen im Bunde sein. Gewiss waren böse Zauberer und Hexen darunter. Schlimmer aber noch seien die Höllenbestien, die in den Nächten ihr Unwesen trieben. Seit vielen Jahren sei das Land nicht mehr durch so viel Teufelei geplagt worden. Allen voran sollten es Wölfe sein, die im Dienste des Dunklen Fürsten nach schwacher Beute jagten. Besonders bei Vollmond hörte man ihr vielstimmiges Heulen, fand ihre Spuren im feuchten Boden, sah ihre feurig brennenden Augen im Dunkel der Wälder und manchmal erspähte man ihre schwarzen Rudel sogar bei Tag. Schafe und Ochsen seien zu Hunderten gerissen worden. Zerfetzte Leiber von unvorsichtigen Wanderern fanden sich oft zu Dutzenden am Wegesrand, so war die Kunde. Aber von der Heiligen Zitadelle aus wären bereits die Inquisitoren und Jäger-Mönche entsandt worden, um Teufelsanbeter auf den Scheiterhaufen brennen zu lassen und Höllenbestien zur Strecke zu bringen.
Manche waren sich aber nicht so sicher, ob heiliger Beistand für die Menschen überhaupt kommen würde und manche, wenn auch eher wenige, zweifelten gar an der übertriebenen Vielzahl blutiger Untaten durch angeblich teuflische Wölfe und hielten das seltsame Volk von vermeintlichen bösen Zauberern und Hexen nur für harmlose Fremdländer auf der Durchreise. Es wurde noch von anderen Dingen besonders in den Tavernen zu später Stunde gemunkelt. Böse Waldgeister hätten ganze Regimenter der Armee verschwinden lassen. Wieder wären Kinder von Hexen entführt worden. Normale Menschen wurden über Nacht zu Besessenen. Ein gewaltiger Eber habe dutzende Holzarbeiter gefressen. Und ein gefiederter Drache mit Brüsten sei in der Abenddämmerung im Osten gesichtet worden.
Man erzählte sich auch vieles, das ganz eindeutig als dumme Märchen ängstlicher Weiber und wirren Gelabers alter Männer abgetan werden musste. Je größer die Runde, je tiefer die Nacht und je mehr Bier auf den Tischen der Schenken standen, umso zahlreicher und schlimmer wurden die Geschichten von all dem vielen Schrecklichen, von all den bösen Menschen im Teufelsbunde und von all den höllischen Bestien, die das einfache, gläubige Volk heimsuchte. Aber die allergrößte Gefahr drohte von der Schnabelbrut und dem Krieg, den sie bringen würde, dies war absolut gewiss. Nur Armee und Kirche würden Volk und Reich noch retten können. Es waren wahrlich grimme Tage in der Grenzprovinz Dimbrag.
Grau und schwarz ballte sich der Himmel. Ein erster Blitz zerschnitt die Luft mit Donner. Regen folgte. Hart prasselte es auf die Erde. Eine Straße führte aus einem Wald hinab in die östlichen Hügellande von Dimbrag. Der Geächtete war auf seinem Weg.
Langsamen Schrittes marschierte er. Hochgewachsen, von leicht gebückter Haltung. Schwarz war sein Mantel, silbern das Schwert auf seinem Rücken. Tief ins Gesicht gezogen hatte er die Kapuze, seine Augen im Schatten. Bart und Haar lang und dunkel, aber unregelmäßig von grauen Strähnen durchzogen. Unter der Kleidung zeichnete sich ein muskulöser Körper ab. Mit der einen Hand über die Schulter geworfen schleppte er einen schweren, ledernen Beutel mit. Etwas war anders an diesem Wanderer, als an allen anderen Wanderern, die in diesen Tagen die Lande durchstreiften. Kein Händler, kein Soldat, auch kein Flüchtling, nein. Ein Söldner vielleicht. Es konnte auf den ersten Blick nicht wirklich erfasst werden, aber allein die Art, wie er sich bewegte, schien etwas befremdlich, irgendwie nicht ganz richtig für einen Menschen. Etwas Bedrohliches und zugleich aber auch etwas Gebrochenes strahlte er in seinem Wesen aus. Und er trug kein Schuhwerk. Nur nackte Füße.
Der Geächtete hielt inne. Hob den Kopf. Schnupperte, witterte einen schwachen Geruch. Er blickte den Hügel hinab, wo er Spuren im nassen Boden sah. Frisch. Menschlich, aber hie und da zu weit in der Schrittlänge. In der Entfernung, in einem Tal zwischen dunkelgrünen Erhebungen, war durch den grauen Regenschleier an einer Wegkreuzung ein größeres Gebäude mit erleuchteten Fenstern zu erspähen. Mehr sahen die sehr scharfen Augen: eine hohe Holzpalisade umringte dieses und einen Stall anbei, ebenso eine kleine Holzhütte. Klänge von Musik und Palaver konnten lediglich bei ganz genauem Hinhören zwischen Donner und Prasseln ausgemacht werden. Seine äußerst empfindliche Nase verriet ihm sogar die drei Reittiere unter dem Strohdach. Eine Raststätte und Taverne, die sich nicht unweit der südlichen Ausläufern des Langen Walls befand. Ein verfallener Wachturm reckte sich als gebrochener Stumpf nahe der Niederlassung in den wolkenverhangenen Himmel.
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