Minuten später schlüpfte Lindy im übergestülpten Pullunder wieder aus seinem Dienstzimmer heraus. Beim Abschließen bemerkte er lächelnd: „Ist ja draußen wärmer, als ich dachte. Machens wir ebensalopp, stört Sie beide doch nicht? Als Inspektoren hoppeln Sie doch auch leger durch Ihre Gänge, oder?“
Lindy führte den aus der Hosentasche gezückten Schlüssel ins Schloss und schloss die Bürotür ab, bemerkte, nach hinten gesprochen:
„Zur Vorsicht! Man kann ja nie wissen, wer hier so alles herumhoppelt.“
Ohne aufzufordern, ging er durch den Korridor zum Treppenhaus, Engelheim und Hawknight folgten ihm.
Auf der Treppe ging Lindy einige Stufen voraus und fragte hinterrücks: „Was führt Sie ausgerechnet zu mir? Inspektoren des Verteidigungsministeriums, kann ich mir vieles vorstellen, nur nicht, warum Sie ausgerechnet meine Akte hervorkramten und warum sie ausgerechnet meinetwegen hier auftauchen müssen. Wackelt irgendwo eine Patrone im Lauf, so was wäre mir aber außerordentlich neu und peinlich zudem. Für solche Fälle ist übrigens die Revision zuständig, nicht ich. Oder ist Ihnen die Arbeit ausgegangen? Meine Erinnerung reicht kaum soweit, mich zu erinnern, wann mir einer, geschweige denn zwei, von der Regierung ihre Aufwartung machten. Aber nun sind Sie hier, und es geht abwärts. Nein, nicht wie Sie vielleicht denken, meine Herren. Nur noch ein paar Stufen, dann sind wir da, wo’s herrlich duftet. Setzen die, wo sie herkommen, nicht auf Atom?“
„Bei Atom sind wir die Falschen“, schob Hawknight aus dem Takt gebracht, auf unterster Treppenstufe nach.
„Falsch, ha, ha, wer ist nicht falsch in dieser Welt? Erst einmal gibt es aber etwas zu mampfen, Sie sind selbstverständlich eingeladen, meine Herren.“
Einige Sekunden Reaktionszeit brauchte Hawknight schon, um zu antworten: „Oh, nein, Dr. Lindy. Wir sind Regierungsinspektoren im Dienst. Ihre überaus freundliche Einladung könnte sich bei uns als Bestechungsversuch spiegeln. Wir zahlen besser selber, falls wir etwas nehmen. Hast du Kohldampf, Gass?“
Klar war, dass Lindys Alarmsirenen bereits schrillten. Er wusste genau, dass seine bis jetzt so unauffälligen Besucher ihn unter Vorwand zurück im Büro in die Enge drängen wollten. Er ahnte auch, um was es sich handeln könnte, aber noch überspielte er es, obwohl er nur zu genau wusste, dass die Schlinge bereits um seinem Hals lag und sich schon bald zuziehen konnte.
Lindy steuerte in der Großraumkantine zielgerichtet auf einen Tisch zu, der wohl ständig für ihn reserviert war, auch wenn sein Name nirgendwo zu lesen stand.
Engelheim und Hawknight nahmen in der Kantine gegenüber Lindy Platz, der sich sogleich wieder entschuldigte und im Schnellschritt Richtung Essensausgabe lief. Ohne ihre Trenchcoats abzulegen, schauten Engelheim und Hawknight aufmerksam Lindys Auswahlritual an der Essentheke zu.
Nicht viel Zeit verstrich, bis er sich ihnen wieder gegenübersetzte, ein vollgestelltes Essenstablett vor sich stellend. Lindy grinste dabei die beiden ihm gegenübersitzenden Trenchcoats an und gestikulierte ihnen, nachdem er platzgenommen hatte, ihre Trenchcoats abzulegen. Statt abzulegen, sahen sie stumm zu, wie Lindy sein paniertes Schnitzel ohne Soßenglasur schnitt und seine Gegenüber ansehend genüsslich schmatzte.
Plötzlich durchschnitt den Fleischanschnitt im Kantinensaal weiter hinten eine weibliche Stimme, die überschwänglich laut ‚James, James‘ rief. Laufschritte unter ‚James, James‘-Rufen näherten sich ihm im Rücken.
Während James seelenruhig weiteraß, sahen die beiden Gäste eine kostümierte junge Frau, die mit aufgeregt wirbelnden Armen auf die Sitzgruppe zu hetzte. Geschätzt Anfang dreißig, hellblond, frisiert. Die kostümierte Frau stoppte seitlich am Kantinentisch, sah herab auf Lindy, sagte aber nichts, sondern drückte ihre Lippen aufeinander. Minutenlang sah von oben herab zu, wie Lindy weiteraß. Während sie dastand und ebenfalls schwieg, zwinkerte sie den beiden seltsamen Besuchern in Trenchcoats kurz zu und machte eine Grimasse, die darauf schließen ließ, dass ihr Schweigen nicht ernst gemeint war.
Als ob ihn die Frau zur Linken nichts anginge, aß Lindy weiter, entschuldigte sich nach ein paar Minuten, ohne sein Besteck abzusetzen: „Nichts Besonderes, meine Herren. Lassen Sie sich von ihr nicht ablenken.“ Kurz danach setze er aber sein Besteck ab und sagte forsch, nach links oben zu der Frau linsend: ‚Goodbye!‘
Was wohl der Auslöser war, dass sie einmal aufstampfend über Lindys Kopf hinweg losschimpfte: „James, du erwiderst ja nichts, wenn ich nach dir rufe. Sogar nicht, wenn ich neben dir stehe? Erreich‘ dich doch nur in dieser Kantine, sonst scheinst du ja Luft zu sein. Hast wohl schon wieder vergessen, mich zu schneiden, geht nicht mehr, Bruderherz! Du könntest nach so vielen Tagen, wie wir uns nicht begegnet sind, mich wenigstens eines Blickes würdigen, findest du nicht? Dein Schnitzel kann doch wenigsten warten, wenn deine Schwester mit dir spricht, oder?“
Ohne aufzusehen, stöhnte der angesprochene Bruder auf Deutsch: „Was gibt es denn nun schon wieder zu bequatschen, Kleinschwesterchen? Kuverts falsch bedruckt, weißt du doch, dafür, bin ich nicht zuständig.“
„Nenn‘ mich nicht Kleinschwesterchen, James! Wenn ich nicht wäre, würde kein Geschäftsbrief das Unternehmen ordentlich getippt verlassen. Unverzüglich ins Englisch zurück manövrierend: „Hast du dich schon entschieden, James?“
James, seelenruhig weiterspeisend. Beide Inspektoren glaubten, ob der Kantinenkonversation ihren Ohren nicht zu trauen.
„Für was soll ich mich denn entschieden haben, Klein-Ann?“
„Wollten wir beide nicht mal wieder zusammen ins Kino gehen? Du erinnerst dich hoffentlich noch. Wir haben schon vor Wochen Kreuz auf Bein geschworen: der nächste Streifen mit Montgomery Clift, äh, Donna Reed gehört uns.“
„Ann, es geht nicht. Ich hab’ zu viel um den Kopf, und um die Ohren dazu. Du siehst doch diese beiden Trenchcoats mir gegenüber. Sie lassen nicht locker, ohne Vorrang zu erhalten. Such dir doch endlich einen, den du in Streifen mit brüllendem Löwen zerren kannst.“
„Hört, hört, was so meines Bruders Stirn entwächst, vor allem aber mit wem, James? Im Unternehmen hat der Tag dreißig Stunden. Außerdem rennen über Bordsteine, manchmal sitzen sie auch in lackierten Straßenkreuzern, nur Weichlinge, die dir die Blumen vom Beet quasseln.“
„Blumen vom Beet, langweile mich nicht weiter und unterhalt mich nicht immer mit deinen Extravaganzen.“
„Was gönn‘ ich mir schon, hier wird einfach zu viel gesprudelt.“
„Innovation, lern…“
„Menschen schneller und massenweise ihrem Spirit zuzuführen, ja, ja Oh, du hast Besuch? Hatte ich gerade schon mal gelinst. Was sind denn das für welche? Sehen nicht gerade aus als seien es Weichlinge, eher ernst und bürokratisch. Du hast doch nicht etwa…?“
„Nein, hab’ ich nicht, was wird das hier, ein Verhör?“
„Mit Trenchcoats, gleich in doppelter Ausführung, sieht man dich sonst selten. Ist was passiert, und wenn, warum weiß ich nichts davon?“
Verärgert ließ James Lindy Messer und Gabel klirrend auf den Teller fallen, drehte sich heftig nach links, sah zu seiner Schwester hoch und stotterte:
„Was … was meinst du damit?“
„Das würden wir auch gern wissen“, schaltete sich Hawknight dazwischen. Lindy warf ihm sogleich einen wütenden Blick zu. Setzte wieder zur Linkswendung an, verweilte kurz, nahm die gewohnte Esshaltung ein und griff Messer und Gabel. Bevor er weiteraß, zischte er noch nach links über seine Schulter: „Jetzt reicht's, Ann! Komm, quassel' woanders. Für Hirngespinste hab’ ich heute und in Zukunft keine Zeit mehr!“
So einfach war Ann anscheinend nicht, fortzujagen, denn sie blieb standhaft, konterte raffiniert: „Ich wollt' mich ja nur vorstellen. Neue Gesichter in der Kantine, die müssen mich doch kennenlernen, und ich auch! Neue Gesichter bedeuten gleich Berge von Akten, Mappen, die gefüllt, Unterschriften, die besorgt werden müssen. Übrigens James, angekündigt ist "From Here to Eternity" (Verdammt in alle Ewigkeit‘). Im Film wird ordentlich geschossen und geprügelt. Das interessiert dich doch bestimmt! Vom Schießen warst du doch schon immer hellauf begeistert, James.“
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