Fliegen half, größere Distanzen und kleinere Grübeleien zu bewältigen; an einem einzigen Tag der Zeit ein Schnippchen zu schlagen. Ich erinnerte mich, wie ich als Kind alle möglichen Flugzeuge aus Plaste mit Modellbausätzen zusammengeklebt hatte. Darunter waren sogar Flugzeugtypen aus dem nichtsozialistischen Wirtschaftssystem (abgekürzt NSW, wen es interessiert). Ich polkte an diesen filigranen Maschinen herum, obwohl ich Basteln hasste. Vielleicht suchte ich auch nach Wegen, hier wegzukommen. Da konnte es nicht schaden, ein bisschen darüber zu wissen, wie ein Flieger aufgebaut war und welche Maschinen es überhaupt auf der Welt gab, beziehungsweise in der Luft. Schließlich konnten Flugzeuge eine der geheimnisvollsten Kräfte der Natur überwinden, die Schwerkraft. Ich hätte wetten mögen, dass diese Kraft in der DDR erfunden wurde. So bleiern wie sich das Land, und die darin wohnten, gaben.
Diese hängenden Köpfe und fallenden Schultern, als fiele jeder Schritt doppelt so schwer. Nichts schien hier irgendjemanden leicht zu fallen. Dazu eine Trägheit, die Ihresgleichen suchte. Gab es nicht auch ein Trägheitsgesetz? Und wenn ich an Claire und ihre Familie dachte, die wollten weg hier, nur weg.
Hatte das vielleicht mit der Fliehkraft zu tun?
Bloß, wie gesagt, Physik und dergleichen war so gar nicht mein Fachgebiet. Insofern konnte es sein, dass ich mich täuschte. Aber darüber wussten andere besser Bescheid. Denn das Leben ist mitunter kompliziert und an Gesetze hielten wir uns in meinem Alter überhaupt nicht gern. Egal, worauf diese beruhten.
„Es hat ihm nichts genutzt“, unterbrach Malte die Stille.
„Er hat´s versucht“, sagte ich dazu.
„Wie Ikarus!“, warf Malte noch ein.
„Gibt´s da nicht auch `ne Straße hier?“
Ich lachte zwar. Doch es klang nicht frei, ganz und gar nicht.
Es sollte Was-auch-immer vergehen, ehe wir wieder über unsere drei großen Themen miteinander reden würden. Meine Oma wusste auch, warum: Gut Ding will Weile haben. Und manche Dinge brauchen Gelegenheit, sich zu entwickeln. Genauso wie wir. Doch es war noch nicht abzusehen, ob uns letztlich die Zeit dafür bleiben würde. Oder was die Heimat uns bedeuten könnte, von der Liebe ganz zu schweigen. Wir dämmerten also in vielerlei Hinsicht vor uns hin.
Es waren Momente wie dieser, in denen mochte ich nicht länger darüber nachdenken, was die Zukunft so alles mit sich bringen würde. Was auch damit zusammenhängen dürfte, was sie mir alles vorenthalten wollte. Irgendwann sah ich einen Film darüber. Stalker. Da wurde mir klar, dass auf einer Zone einfach kein Segen lag, obwohl sie angeblich das Glück beherbergen sollte. Aber es ist vermutlich überaus kompliziert, dieses so genannte Glück genau in jener Zeit zu finden, in der man lebt oder in solchen Momenten, in denen man es braucht. Außerdem war Tarkowski Russe. Die sahen das sowieso ganz anders: mit dem Glück, mit dem Segen und überhaupt.
Fürs Erste müsste ich mich damit abfinden, was jetzt war. Aber nicht für immer. Für immer und ewig war ja noch nicht mal die DDR. Zumal auch ihr Vorgänger in Sachen tausendjähriger Perspektive nur Anfangserfolge verbuchen konnte. Zeit ist eben immer relativ. Das Leben allem Anschein nach auch. Manchmal muss man als Mensch eben Berge versetzen wollen und keine Häufchen machen. Doch wie ich das am besten anstellen sollte, davon hatte ich noch keinen Schimmer. Woher sollte ich das auch wissen? Mit Leuten, die darüber möglicherweise Bescheid wussten, redeten wir ja nicht. Und die Leute, mit denen wir darüber reden wollten, wussten es nicht. Irgendwie fehlte jemand dazwischen, der Ahnung hatte, oder genügend Verstand, seine Ahnungen für sich zu behalten. So gab es Tage, an denen ich meinte, ich dürfte keine Zeit mehr verlieren. Dann wiederum gab es Tage, an denen ich befürchtete, dass es selbst dafür bereits zu spät wäre. Obwohl es für Panik nun gar keinen Grund gab. Schließlich waren wir jung, und wenn es im Osten eines wirklich reichlich gab, dann war das Zeit. Manchmal war das ziemlich beschissen.
Ansonsten machten wir was draus.
III Das Triumvirat vom Ring.
Alle Menschen werden Brüder?
Im Innersten war Neubrandenburg rundum überschaubar. Zumal es eine Stadt war, die sich selbst Grenzen auferlegte. Der „Ring“ schlängelte sich als mehrspurige Straße um das behäbige Zentrum. Genau wie der Stadtwall, ein mal flaches, mal kuppiges Auf und Ab voller Grün entlang der Stadtmauer, in deren schattiger Verheißung drei Männer ihre Zeit totschlugen, und sich dabei jede Menge Gründe ausdachten, miteinander zu schweigen.
Einer von ihnen hieß Kutti Eierbauch, ein stadtbekannter Name, den man sich so nicht hätte ausdenken können. Ein Unikum auf zwei Beinen inmitten unseres sozialistischen Alltags, ein Maskottchen des Elends; ein Mensch, der Heilsversprechen wie Siegesparolen zu trotzen vermochte. Zumal, Kutti soff nicht. So wie die anderen. Er rauchte auch nicht. Nur gelegentlich sah ich ihn mit einem aufgelesenen Stumpen einer Zigarre im Mund, auf der er herumkaute. Er sog manchmal in einer Weise daran, als wüsste er, wie vergeblich auch diese Lust wäre. Kutti sah nicht wie jemand aus, der sich noch etwas vormachte. Hätte er Kinder gehabt, die in die Schule gingen, würde in der entsprechenden Spalte im Klassenbuch das Kreuz bei „Intelligenz“ stehen. In diesem Land galt es immer noch für wichtig, von wem man abstammte. Schließlich hatte Kutti studiert. Zuerst irgendeine Fachrichtung, später das Leben. Jetzt aber saß er auf einer gestürzten Eiche, die erst der Sozialismus gefällt hatte. Er war nicht allein.
Daneben, auf seinem schwarzen, stets blank gewienerten, Fahrrad mit riesigem Ochsenkopflenker saß Watson, der sich selbst so nannte. Am Lenker war ein uriges Kofferradio mit Plastikhülle montiert, aus dem leise Musik ertönte. Watson jedoch hörte kaum hin, er hatte ganz andere Sorgen. Die funkte er ab und an hinaus in die Welt. Manchmal reichte ihm dazu sein zerschlissenes Brillenetui oder ein eingeklappter Regenschirm. Wenn ihm irgendetwas auffiel, missfiel oder unklar blieb, hallte es „Hallo Holmes, Sherlock Holmes! Hier Watson. Kommen, bitte kommen.“ durch den Äther und durch diese Stadt. Nun sag mir noch einer, im Norden hätten sie keine Antenne für Humor!
Vielleicht war es aber auch ein Hilferuf?
In jedem Fall war Watson mobil durch und durch. Immer im Einsatz, wenn es darum ging, seiner Stadt zu Diensten zu sein. Man traf ihn am See, im Kulturpark und auf dem Ring. Er spürte, dass hier etwas nicht stimmte und hoffte an seinen heiteren Tagen, dass er deswegen doch noch gebraucht werden könnte. Watson war wirklich auf Mission. Er wollte diese Stadt von ihren Dämonen befreien. Ja, denn hier gab es möglicherweise Geister und wie in vielen anderen Städten unseres Landes eine Straße der Befreiung. Das klang ganz nach Watsons Nachhauseweg.
Manchmal stand noch Düster dabei, der oft auch so aussah. Ich wusste nie, was ich über ihn denken sollte. Aber, ein Frivoler war er ganz bestimmt nicht. Er lief mit eingezogenen Schultern im hellblauen Trainingsanzug sowie mit Topfhaarschnitt herum und wirkte nervös. Er zappelte und wippte unentwegt auf seinen Füßen herum, das Gegenteil einer - sagen wir mal - ausgependelten Persönlichkeit. Unter uns ging das Gerücht, dass er was mit Leichen machte. Was unsere Phantasie regelmäßig auf Touren brachte. Das hatte offenbar damit zu tun, dass wir uns etwas vorzustellen versuchten, das wir uns eben nicht vorstellen konnten. Irgendwann erfuhr ich, dass Düster als Obduktionsgehilfe in der Pathologie angestellt war. Das machte ihn kaum sympathischer. Obwohl er dadurch mehr darüber in Erfahrung brachte, was uns letztlich ausmacht, als wir ahnen konnten: Nur redete er nicht darüber, was sich in unserem Innersten verbarg. Er wusste augenscheinlich mehr über Respekt als wir. Und wir, wir trauten uns einfach nicht, ihn danach zu fragen. Das war die eine Seite. Und Düster sah nicht so aus, als hätte er je eine andere Seite für sich gehabt. Das nämlich hätte bedeuten können, er hätte die menschliche Seele entdeckt. Allerdings, ob dies von Vorteil wäre, wer wollte das abschließend beurteilen?
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