Außerdem, je länger ich so darüber nachdachte, einiges bräuchte ich schon; einen anderen Vornamen zum Beispiel. Ich kniff Augen und Mund zusammen, und rückte meinen Vornamen nur raus, wenn ich direkt danach gefragt wurde. Fragen dieser Art mochte ich allerdings überhaupt nicht. Trotzdem waren Vornamen wichtig. Erst auf dem Spielplatz, dann im Klassenbuch, später bei den Mädels. Doch seien wir mal ehrlich, idiotischer Name hin oder her. Perspektivisch betrachtet blieb kaum Zeit, sich permanent über einen bescheuerten Vornamen aufzuregen. Voraussichtlich hatte ich gerademal noch so um die zehn Jahre. (Wozu also weiterhin Zähne putzen, Pläne schmieden, fürs Leben lernen?!)
Schließlich waren unsere Idole spätestens mit 27 weg vom Fenster. Stattdessen klebten sie an unseren Wänden: Morrison, Joplin, Hendrix & Co. Siebenundzwanzig! Ein Leben jenseits dieser magischen Altersgrenze schien uns weder möglich, noch clever oder zu guter Letzt in irgendeiner Weise erstrebenswert. Eher dachten wir, ihre Seelen gingen unseren voraus. Ja klar, andere Rockstars starben später, ein paar überlebten sogar. Wir mochten sie nicht besonders, vielleicht auch deshalb. Bis zur Unsterblichkeit ist es halt immer ein beschwerlicher Weg, den nicht jeder gehen kann. Man könnte glatt ein Lied darüber singen. Von wegen Rock’n Roll can never die ...; es hieß wohl eher: Spielt mir ein Lied zum Tod.
Mit Clemens als Vornamen jedenfalls war ich genervt und gezeichnet. Eine fade Buchstabenreihe ohne Sex, vom Klang ganz zu schweigen. Wenn ein Vorname einen Geruch hätte, roch meiner nach Unentschieden oder erinnerte vage an eine Südfrucht-Kreuzung. Wovon wir allerdings nicht so viele kannten. Vor allem nervte mich dieses unmännliche „s“ am Ende. Das war visuell schon Mist. Doch wozu aufregen? All diese Klaus, Silvios, Dietmars, Olafs und Udos waren viel schlimmer dran. Und eigentlich war es doch vollkommen egal. Denn erstens gab es Spitznamen, und zweitens verwechsle ich in der Erinnerung ohnehin die eine oder andere Figur. Also, ganz prinzipiell betrachtet, denn ich mochte Prinzipien, sagt ein Vorname so gesehen überhaupt nix.
Womöglich liefen derartige Gedanken wie vieles andere auch unter Weltanschauung; wahrscheinlich hatte sogar jeder seine eigene. In der Schule war das tagtäglich ein ausuferndes Thema mit diesem ganzen Drumherumgewese von Weltall, Erde und Mensch. Sie (ver)suchten dabei Antworten auf die drängendsten Fragen unserer Zeit. Nur durften an unserer Schule nicht so viele Fragen gestellt werden, damit wir auf dem kollektiven Marsch in unsere strahlende Zukunft nicht noch in Zeitnot gerieten. Deshalb galten hier klare Ansagen und Haltungen, ansonsten drohten Konsequenzen. So knapp ließ sich das Grundprinzip der sozialistischen Erziehung komprimieren.
Doch Erziehung interessierte mich nicht, Literatur hingegen schon. Vor allem, wenn sie bemüht waren, für ihre manifesten Vorlieben künstlerische Vorbilder zu kreieren. Da machten sie aus Hamlet einen Underdog und aus Goethe gleich einen kommunistischen Vordenker, inklusive Vision einer zukünftigen Gesellschaft. Wir mussten die entsprechende Passage aus dem Faust auswendig lernen und starrten Mitschülern beim Rezitieren ins Gesicht, wenn sie mit mehr oder weniger Verve zwischen schluckhaften Atemzügen versuchten, uns die großen Menschheitsträume literarisch näher zu bringen.
Während des Deutschunterrichts überkam mich manchmal die Befürchtung, dass sie dem Genossen Goethe postum noch den Vaterländischen Verdienstorden anhängen könnten. Vermutlich hätte es nur noch ein oder zwei Literaturkongresse gedauert, und sein Konterfei würde neben den Nasen von Marx, Engels und Lenin prangen. Schließlich war nach Stalins Tod wieder Platz drauf, auf ihren Bannern und Wimpeln. Obwohl der einzige Protagonist, der es verdient gehabt und dorthin gehört hätte, nach meiner Ansicht Sisyphos gewesen wäre. Der erste wirkliche Held der Arbeit; der, ohne je seinen Stolz zu verlieren, unermüdlich zur tragischen Gestalt wurde. Nur, hierzulande redete niemand von ihm. Die Sagengestalten unserer Tage hießen Adolf Hennecke, Marschall Shukow und vielleicht noch Timur. Mir hingegen ging Sisyphos nicht mehr aus dem Kopf.
Manchmal beginnen Mythen so.
Wir lebten in Fähnchenland. Wenn Wind aufkam, flatterte es überall und knisternd heischten die Flaggen um eine gehörige Portion Aufmerksamkeit.
Dabei waren sie sich für nichts zu doof, oder zu schade; und verliehen für nahezu jeden Unfug oder Mist eine Medaille, ein Banner oder wenigstens einen Wimpel: für die Gewährleistung der öffentlichen Ordnung und Sicherheit, für ausgezeichnet rammelnde Karnickel und für besonders vorzeigbare Hühner, für vorbildlichen Einsatz … und für einen genauen Schuss.
Allerdings hingen selbst bei mir einige Wimpel an der Wand, ehe ich diese zusammen mit den ganzen billigen Medaillen, die ich zumeist beim Fußball gewonnen hatte, in einer wütenden Nacht entsorgte. So wie Cassius Clay seine Goldmedaille einst in den Ohio warf. Nur, dass ich den ganzen Kram nicht in unser Flüsschen Tollense schmiss, sondern in die Mülltonne. Damit hatte es sich bei mir also einfach mal ausgeflaggt! (Wie ich hier als Nachkomme eines Schiffsoffiziers, der einst die Linie nach Amerika befuhr, wohl berechtigterweise anmerken durfte.)
Jeder Mensch geht eben anders mit Erfolgen um. Zumal dieses Land nicht für persönliche Triumphe geschaffen war. Denn hier ging es vorrangig um das Kollektiv. Aber damit hatte ich nichts am Hut. Ich kam gut und gerne mit mir allein zurecht.
Malte und ich hatten heute unseren Philosophischen. Malte war mein bester Freund. Obwohl es schwierig ist, das so auszudrücken, weil Freunde in einer Rangliste zu führen ziemlich obskur wäre.
Egal, wir pafften jedenfalls vor uns hin und rätselten derweilen, was also die Welt und die Weise mit uns vorhätten, gern auch in umgedrehter Reihenfolge. Vielleicht lag es nur am Wetter oder an der Wirklichkeit, wahrscheinlich jedoch eher an uns.
Bereits in den großen Pausen wälzten wir auf dem Schulhof mächtige Themen: Zeit, Liebe und Heimat. Das ganze Programm. Schwerer Stoff für eine leichtlebige Jugend. Am Nachmittag setzten wir unseren Dialog oft vor der Imbissstube fort. Daneben befand sich die Kaufhalle. Davor gab es einen Findling aus uralten Eiszeiten, etliche Tonnen schwer, mit dem sie in dieser Stadt der Zukunft scheinbar nichts anzufangen wussten. Darauf thronten wir und warteten auf jemanden, den wir kannten. Meist kam niemand vorbei. Dann redeten wir einfach weiter. Denn wir fanden immer ein Thema, und auch genug Worte. (Dafür hätte man uns in einem früheren Zeitalter aus einer Stummfilm-Landschaft wie Mecklenburg möglicherweise verbannt.) Jetzt sprachen wir darüber, was uns möglicherweise am meisten beeinflusst, (für die Jugend bedeutet dies meist bedrängt oder nervt). Oder davon, was für uns besonders wichtig wäre. So landeten wir gedanklich wieder da, wo wir heute Morgen aufgehört hatten.
"Zeit!", sagte ich.
"Wie?", fragte Malte.
"Das weiß ich gerade nicht", sagte ich. Das war keinesfalls gelogen.
"Vielleicht weil sie weniger wird?", fragte Malte nun.
"Sie wird nicht weniger. Das ist nun absoluter Quatsch. Wir werden nur älter", sagte ich.
"Du nu wieder!", Malte winkte ab.
Wir brauchten was anderes.
"Was ist mit der Liebe?", fragte ich.
"Frag doch Claire!", antwortete Malte.
"Ich frag aber dich!", sagte ich darauf.
„Ich frag aber dich!“, äffte mich Malte erst nach, ehe er sagte:
"Ich weiß es nicht."
In Momenten wie diesen dachte ich: Freundschaft ist beständiger als Liebe. Allerdings behielt ich meine kleine Weisheit für mich. Außerdem hätte ich sie nicht beweisen können. Also schwiegen wir, leicht konsterniert voneinander, und kapitulierten bis auf Weiteres vor den allzu großen Themen; oder, halt, doch noch nicht ganz.
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