„Heimat, wie wär´s mit Heimat?“
Ich versuchte es auf diese Art und schaute jetzt Malte direkt in die Augen, weil es mir etwas bedeutete, herauszubekommen, was er wirklich dachte. Außerdem erschien er mir als touristischer Mehrkämpfer geradezu prädestiniert für derlei Auskünfte. Schließlich müssen die sich doch überall durchschlagen.
Daraufhin zündete sich Malte erst mal eine an, zog seine Schultern kurz hoch, rückte die Brille zurecht und runzelte die Stirn. Viele Falten hatten wir ja in unserem Alter noch nicht. Viel mehr Ahnung offensichtlich auch nicht. Dennoch, ich behielt ihn fest im Blick. Er beugte sich zu mir, schaute über die dünnen Ränder seiner Brille zu mir. Schließlich holte er Luft, tief von innen, von ganz unten.
„Ohne Heimat verkümmern wir.“
Das kam jetzt von Malte, in einem Stoß, und ohne erneut Luft zu holen. Direkt hinein in diesen, unseren Tag und platzte regelrecht hinein in diese Ruhe, die zwischen uns lag, die uns verband. Und während ich noch überlegte, wie das gemeint war, eine Entgegnung suchend, sagte er irgendetwas Banales, um von seinem gewaltigen Spruch abzulenken. Ich hingegen blieb unschlüssig. Einerseits kam mir sein Satz ein bisschen altklug vor, andererseits dachte ich, das kann man auch einfach mal so stehen lassen.
Zwei Jugendliche saßen also ziemlich ratlos vor ihren drei großen Welträtseln: Zeit, Liebe & Heimat, und hatten so gut wie keinen Schimmer. Wir brauchten eine Lösung. Und die lag in diesem Fall ziemlich nahe.
Als wir unser Geld zusammenlegten, reichte es immerhin für ein paar Flaschen Welterklärer. In der Kaufhalle packten wir vier Pilsner in den Korb. Drei Fragen, vier Bier. Wir verstauten die Pullen so, dass sie nicht klapperten und wir nicht am heller lichten Tag in ihrer Gesellschaft gesehen wurden. Sicher ist sicher. Dann spazierten wir Richtung Mühlenholz. Obwohl das, was wir vor uns sahen, nur das Lindetal war. Bis das Mühlenholz käme, wäre es noch ein Stück.
Allerdings hatten wir keine Lust, den Berg runter zu laufen, und anschließend wieder hoch zu kraxeln. Die viel zitierten Mühen der Ebene überließen wir lieber begeisterteren Mitläufern, von denen wir genug kannten.
Inzwischen war es Nachmittag geworden, die Sonne verdrückte sich ab und an. Dazu gesellte sich ein flauer Wind. Wir liefen durch die Oststadt. Naja, liefen, wir schlenderten, und passten auf unsere Vorräte auf. Für einen Moment waren wir schweigsam und ließen Blicke schweifen, sofern uns derartige Allüren in unserem Alter schon zustanden. Was wir sahen, sollte uns wohl Zukunft verheißen. Wir jedoch, wir sahen das ein wenig anders. Außerdem wussten wir wo wir hinwollten, wenn auch nicht unbedingt, wo wir hingehörten.
An den Rändern der Oststadt stand ein gleichermaßen graues wie grauenhaftes Mahnmal für all die Opfer von Militarismus und Faschismus, kurz davor ein Gefährt, das nur darauf zu warten schien, dass sich jemand auf den Weg machen wollte. Es war ein Wagen mit Pferd. Wir sprangen auf und machten es uns auf der Holzbank bequem. Alles war hier aus Holz, selbst der Gaul. Warum ich das betone?
Weil um uns herum nur Beton war.
Mitunter schauten wir genauer hin, es war schließlich unsere Stadt. Es war auch unser Leben, das sich hier abspielte - wobei abspulte die weitaus treffendere Bezeichnung wäre. Dabei fuhren unsere Blicke in der Regel eine langweilige Ernte ein. Es herrschte überall Monokultur in vollster Blüte: dieselben hässlichen Vorhänge, uniform bepflanzte Balkone, einsilbige Menschen. Kurzum: Aussichten, die uns ermüdeten.
Ältere Pärchen nach der Frühschicht, den Kampfauftrag noch in ihren Knochen, ihre Köpfe vernebelt, ihre Buckel gekrümmt. Eins davon bekamen wir jetzt leibhaftig ins Visier.
Er, nachlässig über die Balkonbrüstung gelehnt, im feinrippigen Turnhemd, darauf Spuren von Schweiß und Suff. Ein Bierchen in der einen Hand, in der anderen eine Fluppe, Fliegenklatsche oder eine penibel eingerollte Zeitung. Seine Trainingshose konnten wir zwar nicht sehen, aber in diesen Breitengraden deren Farben zuverlässig erahnen: braun mit gelben und roten Streifen an den Nähten. Die Freizeituniform vom Armeesportverein, beziehungsweise von aktiven Sympathisanten.
Sie hingegen trug eine grelle Bluse, eine riesige Sonnenbrille sowie eine Art Sonnenhut mit einer Blume dran geklebt und goss ihre Pflanzen einzeln, sobald ein kleiner Schatten darauf fiel. Zwischendurch setzte sie sich, wahrscheinlich für ein Kreuzworträtsel, oder auch einen frühen Wein. Er nun wieder starrte in unsere Richtung, als würden wir geradezu in seinem Wagen sitzen. Er rief sie. Sie stand nun direkt neben ihm, ohne ihn zu berühren. Wir hatten noch gute Augen und das Duo infernale von unserer Kutsche aus leibhaftig im Visier. So sahen wir, wie er sich ihr zuwandte, etwas zu ihr sagte und daraufhin in unsere Richtung fuchtelte. Sie wiederum zuckte nur die Schultern, als hätte sie bereits Feierabend gegenüber seinen Problemen. Sie wollte lieber ihre Ruhe, für die kleineren Rätsel dieser Welt, die sie Tag für Tag in bunten Zeitungen löste. Er winkte ab und streckte sich in den Sonnenschein. Und zwar dermaßen, als betriebe er Photosynthese. Dabei leuchtete sein fleckiges Hemd wie ein Fanal. Er nahm einen längeren Schluck aus seiner Pulle. Als er die Flasche absetzte, prosteten wir ihm zu. Er verschluckte sich, wandte sich ab und drehte am Radio. Mit dem nächsten Windstoß hörten wir die Kofferheule dudeln: Schlagertakte oder Nachrichtenfetzen, die frohe Botschaften aus diesem Land verkündeten und melodiös hinaus in alle Welt trugen. Jetzt waren wir an der Reihe, uns abzuwenden. Das alles war so öde, dass wir einen weiteren Schluck brauchten, einen ziemlich tiefen. So stießen wir auf diese Parodie auf unser Leben an. Kaum davon auszugehen, dass wir hier & heute mit unseren drei Fragen weiterkämen. Noch absurder war allerdings die Vorstellung, dass genau solche Balkonmenschen bestimmen wollten, wie wir zu leben haben. Und so absurd wie es war, so beängstigend war es auch. Doch darüber mochten wir gerade überhaupt nicht nachdenken, während wir weiter in Richtung Oststadt glotzten, obwohl der schönere Blick eindeutig hinter uns lag. Aber manchmal will man selbst das Schöne nicht sehen, und alles andere gleich gar nicht. Über uns dröhnte ein Flugzeug, strebte schnurstracks gen Norden.
„… `n Flugzeug müsste man haben“, manchmal erriet Malte meine Gedanken, selbst die heimlichen.
„Ja, das wär´s“ sagte ich, und träumte weiter.
„Dabei haben wir´s ja fast erfunden.“
„Wer, wir?“, ich wusste gerade nicht, worauf er hinaus wollte.
„Na, Lilienthal. Mecklenburger. In Anklam.“
Es sprudelte aus Malte förmlich heraus.
„Wie kommst du denn ausgerechnet darauf?“, fragte ich.
„Ich wohne ja in der Lilienthal-Straße“, antwortete Malte.
„Und?“, fragte ich nun.
„Nichts, und …“, antwortete daraufhin Malte.
„Ja, aber was sollte das jetzt?“, ich ließ nicht locker.
„Ich mein ja nur, das Fliegen hat hier Tradition. Bei uns. Eben Lilienthal. Nun tu doch nicht so!“, betonte Malte.
„Vielleicht wollte er einfach nur weg.“
Als ich gut anderthalb Jahre später zum allerersten Mal abheben sollte, war ich schon achtzehn. Das Ziel hieß Moskau, geflogen wurde hin mit einer TU 154 und zurück mit einer AN 86, der größten Maschine im Ostblock. Ein Monstrum, das selbst Technikdesinteressierte wie mich beeindruckte. Es war wohl eher die Ehrfurcht, dass gewiefte Ingenieure etwas geschaffen hatten, das helfen konnte, Grenzen zu überwinden, und seien es erst einmal nur die zwischen Bruderstaaten. (Kurz überlegte ich, dieses Wort auf meine Liste unerwünschter Begriffe zu setzen.) Dass sie überhaupt auf diesen Begriff gekommen waren. Wahrscheinlich war Schillers Ode daran schuld. Es gab sogar einen Bruderkuss. Auch die Wurzeln unserer Familie lagen östlich. Aber wir hatten dort keine engen Verwandten mehr, also nix mit Bruderstaat. Und in Moskau ging es ebenfalls nicht sehr brüderlich zu. Überall wollte mir einer dieser Brüder etwas abkaufen. Ich bin so einiges losgeworden.
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