Ich warnte ihn vor derartigen Abenteuern.
Diese Geschichten brachten ihn persönlich nicht weiter.
Aber er war verblendet von Komplimenten und Küssen.
„Eine Frau benimmt sich nicht so! Du kannst nicht mit jedem mitgehen und dich vögeln lassen. Du setzt dein Leben aufs Spiel“, schalt ich.
„Warum nicht?“, fragte er unbeschwert.
„Weil man das einfach nicht macht! Die Männer, mit denen du mit nach Hause gehst, achten dich nicht als Frau. Die haben keinen Respekt vor dir!“, rief ich verzweifelt.
Aber er lachte mich aus.
„Doch. Die sehen in mir eine Frau, sonst würden sie mich nicht vögeln wollen“, schlussfolgerte er.
„Das ist schon richtig. Aber das sind nicht die Art von Männern, die du möchtest und sie behandeln dich nicht als die Frau, die du gerne wärst.“
Ich redete gegen eine Wand.
„Abgesehen davon kannst du dir eine ganze Menge Krankheiten einhandeln und das ist nicht lustig“, ich versuchte es auf diese Weise, fand aber auch kein Gehör.
Natürlich hatte ich nicht das Recht den Moralapostel zu spielen. Aber ich konnte auch nicht verstehen, wie man mit einem Unbekannten in der Disco auf der Toilette Oralsex machen konnte oder wollte.
Dass Richard auf diese Art und Weise um Anerkennung kämpfen musste, stimmte mich traurig.
Bei einem dieser WC-Abenteuer lernte er Thomas kennen, in den er sich tatsächlich verliebte.
Richard meinte zumindest, verliebt zu sein, doch ich vermutete darin eine starke Abhängigkeit, denn Thomas konnte mit Richard machen, was er wollte.
Richard erzählte mir bereitwillig, wie sich ihre Treffen gestalteten und ich hatte den dringenden Verdacht, dass sich Richard in ein sadomasochistisches Spiel einließ. Er verhielt sich offensichtlich als devoter Sklave.
Die einzige Bedingung, die Richard zu stellen schien war, dass beim Sex das Licht ausgemacht sein musste.
Zu dieser Zeit hatte Richard weder einen Busen noch ausgeprägte Schamlippen. Die Harnröhre verlief durch die vergrößerte Klitoris.
„Thomas hat mir gesagt, dass seine Freundin in drei Wochen ein Baby bekommt“, sagte er mir so nebenbei.
Ich bekam eine Gänsehaut.
„Was ist denn das für ein Idiot?“, fragte ich erzürnt.
Richard zuckte unbeeindruckt die Achseln.
„Das hat mich zuerst auch gestört. Aber das ist seine Sache“, verteidigte er sich.
„Was? Nein! Du triffst dich nicht mehr mit ihm!“, rief ich sauer.
„Aber er ist so süß“, Richard hatte einen verklärten Blick.
„Was ist das für ein Typ, der so etwas macht?“, ich fasste es noch immer nicht.
„Ich will ihn aber wiedersehen. Er ist der erste, der mich befriedigen kann“, verteidigte er sich.
„Ich finde ihn als Person widerlich. Seine Freundin bekommt in drei Wochen ein Kind von ihm und er belügt und betrügt sie“, wetterte ich weiter.
„Ja, aber dafür muss er ein schlechtes Gewissen haben, nicht ich“, sagte Richard schmollend.
„Aber nicht, wenn du davon weißt. Dann finde ich es auch nicht in Ordnung, wenn du dich mit ihm triffst“, versuchte ich ihm zu erklären.
„Na und? Dann vögelt er eben eine andere, wenn nicht mich“, sagte er und hatte damit wahrscheinlich sogar recht.
„Ja, aber wenn er so ein furchtbarer und verlogener Mensch ist, warum magst du ihn dann überhaupt? Das verstehe ich nicht“, fragte ich ärgerlich.
„Weil er mich geil macht“, er kam etwas näher, so als würde er mir eine Verschwörung mitteilen.
„Er ruft mich zum Beispiel an und sagt, ich solle mich gefälligst ausziehen, er ist in zehn Minuten da. Zu seiner Freundin sagt er, das Fußballtraining hat länger gedauert“, er lachte.
„Du hast überhaupt keinen Stolz!“, rief ich zornig.
Er sah mich an, als würde ich chinesisch sprechen.
„Es bringt dir nichts. Das ist nicht gut!“, meine erklärenden, gut gemeinten Worte waren Luft.
Wochen später kam er weinend zu mir.
Thomas´ Freundin hatte Wind davon bekommen und machte Stress.
Natürlich.
Thomas meldete sich allerdings Wochen später noch, doch irgendwann war auch diese Episode Vergangenheit.
Was ich im Laufe der Jahre allerdings zu verstehen lernte war, dass für mich Stolz eine andere Bedeutung hatte als für Richard, beziehungsweise Romy.
Romy/Richard, Frühjahr 2013
Nachdem der Termin zur geschlechtsangleichenden Operation für September 2013 feststand, konnten sämtliche Dokumente von Richard auf Romy geändert werden.
„Begleitest du mich zum Gemeindeamt? Ich muss meine Geburtsurkunde und den Staatsbürgerschaftsnachweis umändern lassen,“ sagte er und ich hatte Mühe, mich zu entscheiden, wie ich ihn/sie ansprechen sollte.
„Ab wann soll ich denn Romy zu dir sagen?“, fragte ich etwas unsicher.
„Ja, jetzt, wann denn sonst, du musst dich daran gewöhnen. Je schneller, desto besser“, meinte er/sie lachend.
„Und die Psychologin hat schon alles genehmigt?“, fragte ich, obwohl ich ja wusste, dass der OP-Termin schon feststand.
Er/sie sah mich an, als hätte ich gesagt, wir fliegen zum Mond.
„Natürlich, sonst hätte ich den Termin ja gar nicht bekommen, das wird ja alles geprüft“, meinte er/sie.
„Und du freust dich darauf?“, fragte ich ihn/sie und wusste bereits im Vorhinein seine/ihre Antwort.
„Natürlich wäre ich lieber tot, das weißt du“, ich erntete einen strafenden Blick.
„Aber du möchtest ja nun auch optisch und amtlich eine Frau sein und du bekommst jetzt diese einmalige Chance, freust du dich nicht darüber?“, fragte ich ihn/sie und wollte mich gerne mit ihm/ihr freuen.
„Ich kann mir nicht vorstellen, dass ich eine schöne Frau werde. Schau dir meinen Kiefer an, meine Arme sind viel zu männlich, ich habe ein schmales Becken, dafür breite Schultern. Ich werde eine hässliche Frau werden“, antwortete er/sie.
Genau das hatte ich befürchtet.
„Versuche doch einfach einmal, dich darüber zu freuen“, meinte ich mit Nachdruck und versuchte das Thema zu wechseln.
„Was hat denn die Pflegedienstleitung dazu gesagt?“
Er/sie dachte nach.
„Eigentlich war sie sehr nett zu mir. Sie hat gemeint, dass wir das schon schaffen werden. Die Direktorin wollte mich aber davon überzeugen, dass ich nach der Operation auf eine andere Station wechseln soll, damit ich dort einen Neuanfang machen kann. Sie meinte, es wäre besser für mich, irgendwohin zu gehen, wo mich und meine Geschichte niemand kennt.“
Ich erschrak bei diesen Worten, wusste aber gleichzeitig, dass das im Grunde eine gute Idee war.
„Und? Fändest du das nicht gut?“, fragte ich ihn/sie.
Ich kannte ihn/sie aber so gut, dass ich wusste, dass es keinen Sinn hätte, weil er/sie seine/ihre Geschichte preisgeben würde, sobald er/sie Vertrauen in eine Person gesetzt hatte.
Und dann wäre sein/ihr Geheimnis heraus und es würden wieder alle wissen.
„Aber warum darf es denn keiner wissen? Das ist deine Geschichte, dein Leben. Ich finde es spannend“, sagte ich.
Richard/Romy schnaubte.
„Ja, du vielleicht, Isa. Du bist anders. Aber die meisten Menschen haben Vorurteile und sehen mich als Missgeburt.“
Ich konnte es nicht nachvollziehen und hielt meinen Mund.
Natürlich diskutierten wir im Kreise der Kollegen und Kolleginnen ausführlich das Thema „Geschlechtsangleichung“ im Falle Richard/Romy, aber es gab niemanden, zumindest nicht in meiner oder Richards/Romys Anwesenheit, der sich nicht positiv dazu äußerte.
Vielleicht ist es meine Herangehensweise an dieses heikle Thema, dass ich noch nie auf Menschen gestoßen bin, die Romy für ihre „Umwandlung“ verachteten.
Ja, vielleicht ist es die Art und Weise, wie ich es erzähle.
Es ist ja nicht eine Laune von Romy, plötzlich nicht mehr Richard sein zu wollen. Ihr ganzes Leben wäre anders verlaufen, hätte man sie als Kind ordentlich untersucht.
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