„ Die Hündin eines Ladenbesitzers in einer Kleinstadt hatte Junge bekommen. Es waren keine Rassehunde, mit denen man Geld machen konnte, sodass der Besitzer die zusätzlichen Mäuler schnell los werden wollte. Als sie acht Wochen alt waren, brachte er ein Schild an der Tür an. Darauf war zu lesen:
Hundewelpen zu verkaufen!
Ein kleiner Junge kam zufällig vorbei und sah das Schild.
Da der Ladenbesitzer gerade an der Tür stand, fragte ihn der Junge: „Was kosten die Welpen denn?“
„ Zwischen 50 und 80 Euro“, sagte der Mann mürrisch.
Der kleine Junge griff in seine Hosentasche und holte einige Münzen heraus.
„ Ich habe 2 Euro und 37 Cent“, sagte er, „darf ich sie mir bitte mal anschauen?“
Der Ladenbesitzer pfiff nach seiner Hündin. Rasch kam sie angelaufen und fünf kleine Welpen stolperten tapsig hinter ihr her. Das war niedlich anzuschauen und dem Jungen ging das Herz auf. Doch dann sah er einen, der deutlich langsamer war als die anderen, humpelte und zurückblieb.
„ Was hat denn der Kleine da hinten?“, frage der Junge.
„ Der hat einen Geburtsfehler und wird nie richtig laufen können“, antwortete der Mann.
„ Den möchte ich haben“, ruft der Junge.
Der Ladenbesitzer wunderte sich und sprach: „Also den würde ich nicht nehmen. Der wird nie ganz gesund. Aber wenn du willst, schenke ich ihn dir!“
Der kleine Junge wurde sehr wütend. Er blickte dem Mann fest in die Augen und erwiderte: “Ich möchte ihn nicht geschenkt haben!
Dieser kleine Hund ist jeden Cent wert, genauso wie die anderen auch! Ich gebe Ihnen jetzt meine 2 Euro und 37 Cent und jede Woche werde ich Ihnen einen weiteren Euro bringen, bis er abbezahlt ist.“
Verständnislos schüttelte der Ladenbesitzer den Kopf und redete auf den Jungen ein: „Ich würde ihn wirklich nicht kaufen. Überleg es dir doch noch mal. Der wird nie in der Lage sein, mit dir zu spielen und herumzutoben wie die anderen. Was willst du mit ihm? Er wird dir keine Freude machen!“
Da zog der Junge sein linkes Hosenbein hoch und sichtbar wurde eine Metallschiene, die sein verkrüppeltes Bein stützte. Liebevoll blickte er zu dem Welpen hinüber und sagte:
„ Ach, das macht mir nichts aus! Ich kann auch nicht so gut laufen und dieser kleine Hund wird jemanden brauchen, der ihn versteht und trotz allem gern hat.“
Als der Ladenbesitzer das hörte, biss er sich beschämt auf seine Unterlippe. Tränen stiegen ihm vor Rührung in die Augen. Er lächelte verlegen, atmete tief durch und sprach:
„ Mein Junge, ich hoffe und wünsche mir, dass jedes dieser Hundekinder einen Besitzer bekommen wird wie dich!“
(Nach der englischen Geschichte „Weathering the Storm“ von Dan Clark, in einer Bearbeitung von Jens-Robert Schulz, 2009)
Richard, Winter 2011, Veränderung
Die Monate vergingen.
Richards Haare waren zu einer Langhaarfrisur gewachsen, sein Verhalten blieb dasselbe, die regelmäßigen Pflichtsitzungen beim Psychotherapeuten nahm er wahr und seine Familie war informiert.
„Mein Vater hat gesagt, ich darf nie wieder nach Hause kommen“, er wirkte nicht bedrückt und sagte das, ohne mit der Wimper zu zucken.
„Was?“, fragte ich aufgebracht.
„Ja!“, er lachte beinahe schelmisch: „das ist für mich nicht überraschend. Ich habe das gewusst.“
Er sonnte sich offensichtlich an meiner Fassungslosigkeit.
„Und deine Mama?“, fragte ich neugierig.
„Die muss das tun, was mein Vater will. Aber ich glaube, sie kommt auch nicht damit zurecht“, meinte er lapidar.
„Wie bitte?“, ich kam mit diesen Aussagen nicht klar.
„Ich kann es nicht ändern, und es war mir von Anfang an klar. Sie schämen sich für mich. Der ganze Ort wird darüber sprechen“, sagte er und zuckte gleichgültig mit den Achseln.
„Aber du bist doch ihr Kind. Ich verstehe das nicht“, ich kann es wirklich nicht begreifen.
„Bei uns war es immer sehr wichtig, was die Nachbarn von einem halten. Man muss fleißig sein und darf nicht auffallen, das ist nun einmal so in einem kleinen Ort“, er wirkte tatsächlich unbekümmert.
Ich glaubte ihm aber trotzdem nicht.
„Du hast sie nicht darüber informiert, dass du in Wirklichkeit schon immer ein Mädchen warst? Erzähle ihnen doch, dass du Eierstöcke und eine Gebärmutter hast. Eigentlich müssten sie sich bei dir entschuldigen, dass sie das nicht schon als Kind abklären ließen“, ich konnte meine Wut kaum bändigen.
Wer gab diesen Leuten das Recht zu urteilen, zu verurteilen und ihr Kind zu verstoßen, obwohl sie selbst einen großen Fehler gemacht haben?
Ich konnte diese Ungerechtigkeit kaum fassen!
„Es ist nicht ihre Schuld“, verteidigte er seine Eltern strikt, „bei meiner Geburt wurde ihnen gesagt, dass ich ein Bub bin und so haben sie mich ein Leben lang gesehen.“
„Aber deine Mutter musste sich doch etwas dabei gedacht haben, wenn sie dich gewickelt hat“, meinte ich.
„Zwischen meinem Bruder und mir liegen fast zwanzig Jahre. Sie hatte keinen Vergleich mehr und dachte vielleicht, dass das bei mir eben ein bisschen anders aussieht und dass es sich noch entwickeln muss. Aber sie wäre nie auf die Idee gekommen, dass etwas nicht stimmt. Bub ist Bub. Dann hat er eben einen kleinen Schwanz!“, erklärte er.
„Gut, das kann ich nachvollziehen. Ich hatte bis vor Kurzem auch keine Ahnung von Intersexualität“, sagte ich nachdenklich.
„Eben! Und meine Eltern können sich gar nichts darunter vorstellen. Ich lasse es einfach dabei. Sie sollen ihren Frieden haben“, meinte er und wirkte sehr stark dabei.
„Aber wenn du ihnen erklärst, dass du immer schon Eierstöcke und eine Gebärmutter hattest, und dass sie einem Irrtum erlegen sind, dann werden sie es vielleicht verstehen. Du kannst sie nicht in dem Glauben lassen, es sei eine Laune von dir, dass du ein Mädchen sein möchtest“, versuchte ich ihn nochmals davon zu überzeugen, ein Gespräch mit seinen Eltern zu suchen.
Er zuckte nur mit den Achseln.
„Soll ich mit ihnen sprechen?“, fragte ich.
„Nein! Das machst du nicht!“, funkelte er mich böse an.
Ich hatte keine Chance, ihn davon zu überzeugen, dass er mit ihnen sprechen und sie über seine Situation aufklären musste.
Er negierte dieses Thema und wollte nicht mehr darüber sprechen.
Die Eltern wollten nichts mehr mit ihm zu tun haben und somit war dieser Fall für ihn erledigt.
Abgesehen davon würde ich persönlich den Hausarzt zur Verantwortung ziehen, denn auch damals gab es schon eine Kinderklinik, in der ein Kind, dessen Sexualorgane nicht eindeutig zuordenbar sind, hätte untersucht werden müssen.
Aber Richard wehrte strikt ab.
Das würde seiner Familie noch mehr Scherereien bringen, und das wollte er nicht.
Also nahm er in Kauf, dass er nur noch Kontakt zu seinen Schwestern hatte, die wenigstens versuchten, mit der neuen Situation fertig zu werden.
Anatomisch gesehen lag die Scheide nach dem Blutsturz der ersten Regel frei, nachdem die Haut gerissen war, die sie bisher verborgen hatte.
Nun begann eine lange Zeit von Liebschaften und Abenteuern, die ihm meiner Meinung nach das Leben hätte kosten können.
Er wollte um jeden Preis die Bestätigung, eine Frau zu sein und nutzte seinen aufreizenden Augenaufschlag, um sich One-Night-Stands zu angeln, die ihm nichts bedeuteten.
Das Ziel war immer der Geschlechtsverkehr, der ihm dann doch nur Schmerzen bereitete und nichts brachte, außer der Gewissheit, als Frau gesehen worden zu sein.
Das war in meinen Augen ein Spiel mit dem Feuer, denn in seinem Ausweis stand noch immer Herr Richard Zimmermann.
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