1 ...7 8 9 11 12 13 ...16 „Wenn du noch einmal von Selbstmord sprichst, dann lasse ich dich in die Psychiatrie einweisen. Verstehst du das?“, ich versuchte ruhig mit ihm zu sprechen.
„Wenn du das tust, dann springe ich aus dem fünften Stock!“, rief er gereizt und sah mich hasserfüllt an.
Für mich wurde es immer mehr zur Gewissheit.
An diesem Tag hörte sich seine Selbstmordgeschichte anders an als gewöhnlich.
Nachmittags informierte ich seine Schwestern, dass ich vor Dienstende in Absprache mit unserem Arzt die Polizei anrufen und Richard in die Psychiatrie einweisen lassen würde.
Ich hatte an diesem Tag zweimal gehofft, dass mir jemand die Entscheidung abnehmen würde, aber auch der Oberarzt nahm es nicht in die Hand, sondern riet mir nur, die Polizei zu rufen.
Ich informierte meinen Chef, der sich genau wie ich, sehr große Sorgen um Richard machte, über meine Absicht und auch er war froh, dass ich mich darum kümmerte.
Keiner redete mehr ein Wort und die Stimmung war bis zum Abend sehr gedrückt.
Ich weiß bis heute nicht, ob Richard damit gerechnet hat, dass ich ihn tatsächlich einweisen lassen würde.
Um 17.30 Uhr rief ich bei der Polizei an und schilderte die Situation.
Eine viertel Stunde später erschienen zwei Polizisten auf der Station.
Richard betrat zur selben Zeit ein Patientenzimmer. Mein Herz drohte aus dem Brustkorb zu springen und ich ging ihm nach und wollte ihm gerade sagen, dass er mit mir kommen solle, damit die Patienten nichts bemerkten, da erblickte er die beiden Polizisten selbst.
Er schubste mich im Patientenzimmer zur Seite, schrie, dass er mich hasste und hielt die Tür zu.
Ich kann mich auch nicht daran erinnern, ob, und was die Patienten von dieser Situation mitbekamen, aber Richard öffnete nach einer Weile freiwillig die Tür und schritt erhobenen Hauptes zwischen den Polizisten zum Pflegestützpunkt zurück.
Ich schlich bedrückt hinterher.
Richard drehte sich zu mir um und zischte, in einem Ton, den ich nie vergessen werde:
„Ich hasse dich, Isa. Nie hätte ich mir gedacht, dass du mir das antust!“
Wegen Gefahr in Verzug gegen das eigene Leben nimmt normalerweise der Amtsarzt die Zwangseinweisung in eine Unterbringung vor. Warum die Polizei den Amtsarzt nicht im Vorhinein verständigte, ist mir bis heute nicht klar.
Aber Richard war natürlich so intelligent, den Polizisten gleich zu sagen, er käme freiwillig mit.
Somit gab es für ihn keine Zwangseinweisung.
Die Polizei begleitete ihn von der Station in die Umkleidekabine des Krankenhauses und brachte ihn anschließend in die Psychiatrie.
Noch vor 19 Uhr läutete mein Handy.
„Hi Isa, ich bin wieder draußen. Die können mich nicht in der Klinik behalten, wenn ich sage, dass ich es nicht ernst gemeint habe. Und glaube mir, ich kann sehr überzeugend sein, wenn ich will“, triumphierte er.
„Es tut mir leid, aber ich habe getan, was ich für nötig befunden habe. Mehr kann ich nicht tun. Wo bist du jetzt?“ Natürlich war ich perplex.
„Das geht dich nichts an“, meinte er und legte auf.
Seine Schwester Sandra hatte ihn bis zum späten Abend gesucht. Gegen Mitternacht tauchte er in einem erbärmlichen Zustand bei ihr auf.
Es regnete in Strömen.
An diesem Tag sagte er seiner Schwester zum ersten Mal, dass er sich in einem falschen Körper befinde.
„Isa, ich bekomme eine Glatze!“, ruft sie aus.
„Romy, du bekommst keine Glatze. Du hast normale Haare“, sage ich genervt.
„Aber kannst du dich erinnern, wie dichtes Haar ich als Richard hatte?“, fragt sie und sieht mir auffordernd ins Gesicht.
In diesem Moment finde ich sie nicht hübsch. Es liegt an ihrem Gesichtsausdruck, den ich nicht mag.
„Romy, du hast schöne Haare“, versuche ich ihr zu vermitteln.
„Aber sie gehen mir büschelweise aus, wenn ich sie wasche“, sagt sie und schneidet eine Grimasse.
„Wie oft wäscht du sie denn?“, frage ich, um eine normale Kommunikation bemüht.
„Ja, fast jeden Tag“, sagt sie, wie selbstverständlich.
„Du sollst deine Haare nicht jeden Tag waschen, das strapaziert sie zu sehr“, ist meine Meinung.
„Aber sonst sehe ich furchtbar aus!“, ruft sie entsetzt aus.
„Romy, du siehst nicht furchtbar aus. Du bist bezaubernd“, das ist auch meine Meinung.
Romy schnaubt verächtlich.
„Aber ich kann mit einer Glatze nicht leben“, setzt sie das Gespräch fort. Ich habe das befürchtet.
„Du bist weit entfernt von einer Glatze“, sage ich seufzend.
„Jetzt hast du zugeben, dass ich weniger Haar habe“, sie triumphiert sinnlos.
Ich beschließe vorerst nichts dazu zu sagen.
Sie beugt ihren Kopf zu mir herab und teilt mit den Händen ihren Scheitel.
„Schau! Wenn ich nicht kaschiere, dann sieht man meine Kopfhaut“, sie hält mir penetrant ihren Schädel ins Gesicht.
Ich stoße sie sanft etwas von mir weg.
„Romy, bei jedem Menschen sieht man am Scheitel die Kopfhaut“, ich versuche wieder einmal vernünftig zu argumentieren.
„Ich bekomme definitiv eine Glatze. Und damit kann ich nicht leben. Jetzt ist es vorbei. Ich weiß, was ich zu tun habe“, sagt sie und sieht mir provokant ins Gesicht.
„Es gibt auch Perücken“, sage ich und weiß, dass sie davon gar nichts hören möchte.
„Niemals! Vorher schneide ich mir die Pulsadern auf!“, ruft sie aufgebracht aus.
„Nur zu“, sage ich und tue so, als würde ich die Nachrichten auf meinem Handy lesen wollen.
„Isa! Ich bekomme eine Glatze“, sie nimmt mich fest am Handgelenk.
„Das hast du schon gesagt. Und ich habe dir schon gesagt, dass es gute Perücken gibt, falls es wirklich einmal so weit sein sollte.
Wenn du eine Chemotherapie hättest, müsstest du auch eine Perücke aufsetzen“, ich weiß, dass das nichts hilft.
„Ich will aber keine Perücke!“, zischt sie.
„Ja. Du brauchst auch keine. Das kannst du dir dann überlegen, wenn es soweit ist. Jetzt genieße erstmal dein Leben“, auch diese Argumentation ist sinnlos.
Als ich wieder zuhause bin, werde ich sehr traurig.
Zum einen habe ich das Gefühl, mich bei allen Krebspatienten entschuldigen zu müssen, die dazu gezwungen sind, eine Perücke zu tragen, und zum anderen bei jenen Menschen, die an Alopezie leiden.
Ich entschuldige mich für Romy.
Ich entschuldige mich und sage, sie meint es nicht so.
Aber das nehme ich mir selbst nicht ab.
Im Grunde geht es nicht um ihre Haare. Im Grunde geht es nicht um ihren Kiefer, um ihre Stirn, um ihre Arme, um ihre Hände, um ihre Hüften.
Im Grunde geht es darum, dass sie darunter leidet, nicht zu wissen, wer sie ist.
Sie war ein Junge, ohne tatsächlich ein Junge zu sein.
Sie ist jetzt ein Mädchen, ohne die Entwicklung zu einem Mädchen durchgemacht zu haben. Sie weiß nicht, wie es sich anfühlt in die Pubertät zu kommen.
Sie weiß nicht, wie sich ein Mädchen verhalten soll.
Sie weiß nicht, was sie mit ihrer Wirkung auf die Männer erreichen will.
Sie sieht im Spiegel noch immer einen Mann.
Nein, falsch, sie sieht im Spiegel weder Mann noch Frau.
Sie hasst ihr Spiegelbild und sie hasst ihren Körper.
Richard hatte mit seiner lustigen, schrillen Art eine Menge Freunde, aber Romy hat fast alle Freunde verloren.
Nicht, weil sie davon überzeugt ist, ein Monster zu sein, sondern weil ihre Art, sich selbst unglücklich zu machen, von fast niemanden mehr akzeptiert wird.
Ich selbst stoße sehr oft an meine Grenzen, weil ich mit meiner Argumentation am Ende bin.
Ich möchte ihr helfen, weiß aber nicht mehr wie.
Ich finde es schade, wenn sich Freunde von ihr abwenden, aber ich kann es verstehen.
Ihr Selbsthass ist auch für andere zerstörend.
Читать дальше