Ich nickte schmunzelnd und freut mich, dass es nun auch der Oberarzt „gecheckt“ hatte und musste an das Sprichwort denken:
Ist der Ruf erstmal ruiniert, lebt es sich ganz ungeniert!
Ich freute mich für Richard, denn wenn es unser Oberarzt wusste, dann brauchte man niemanden mehr zu informieren.
Als Richard wieder ins Dienstzimmer kam, erzählte ich ihm von meiner Begegnung mit dem Oberarzt und wir lachten Jahre später noch über diese Situation.
Doch leider ging es Richard auch mit seinem Outing nicht besser und den Wunsch, tot zu sein, teilte er mir in immer kürzer werdenden Abständen mit.
Ich machte mir große Sorgen.
Nicht immer, denn auf emotionale Tiefs folgten wieder Phasen, in denen er viel unterwegs war und ich dachte, er hätte Spaß am Leben.
In der Arbeit lachten wir viel.
Er hatte einen guten Humor, versorgte die Patienten bestens, arbeitete gewissenhaft und sprühte vor Energie.
Aber dann kam eine Zeit, wo er sich plötzlich sehr zurückzog.
Die Abstände, in denen er von Selbstmord sprach, wurden noch kürzer, seine Stimmung war im Keller.
Doch ich verstand es gut, diese Stimmungen zu ignorieren, ihn zum Lachen zu bringen und seine Aussagen nicht allzu ernst zu nehmen.
Bis er eines Tages anfing, von einem Plan zu sprechen.
Dann nannte er den Todestag.
Es gab ein Datum.
Ich ignorierte ihn.
Ich beschimpfte ihn.
Ich sagte ihm, dass es nicht fair wäre, so mit mir umzuspringen.
Ich sagte ihm, dass ich ihn, wenn er weiter von Selbstmord sprechen würde, in die Psychiatrie einweisen lassen müsste.
Ich hielt das Ganze nach wie vor für Theater.
Er war Meister in „im Mittelpunkt-stehen-wollen“.
Ich war Meisterin im Ignorieren.
Doch dann kam der Tag X.
Ich kam auf die Station und er beachtete mich nicht.
Ich wollte mit ihm sprechen, doch er sagte, er habe abgeschlossen.
Ich vermisste es beinahe, dass er mir erzählte, dass er sich umbringen möchte…. So, wie er es die vergangenen Wochen getan hatte.
Irgendetwas war an diesem Tag anders.
Und ich bekam es mit der Angst zu tun.
Beim Frühstückausteilen stieß ich ihn in die Seite und flüsterte:
„Was ist nur heute mir dir?“, ich war sauer, weil er nicht mit mir sprach.
„Das ist mein letzter Tag und nun lass mich in Ruhe“, sagte er bitter.
„Nein Richard, das kann ich nicht!“, ich drängte ihn in die Wäschekammer, wo uns keiner hören konnte.
„Es kann dir egal sein, was ich mache“, sagte er trotzig und wollte wieder an mir vorbei zum Essenwagen.
Kurz darauf bekam ich von seiner Schwester eine Nachricht.
Sie war fast krank vor Sorge, weil er sich bei ihr verabschiedet hatte. Es war der Anfang einer langen Kette von Nachrichten, in denen er Abschied von uns nahm.
Ich rief sie sofort an und erzählte ihr, dass ich mir wirklich Sorgen um ihn machte, weil auch ich das Gefühl hatte, dass er an diesem Tag anders war.
Und im Laufe des Vormittags wurde mir klar, dass er seinen Selbstmord für diesen Tag geplant hatte.
Richard, 1992, Hauptschulezeit
Der Einstieg in die Hauptschule war eines der einschneidendsten Erlebnisse in seiner Jugend.
Mit Sporttasche und Waschzeug ausgestattet, ging er mit einem mulmigen Gefühl zum ersten Turnunterricht.
Der Sportlehrer war ein junger, gutaussehender, durchtrainierter und lässiger Mann.
Richard fand ihn sympathisch, hatte aber großen Respekt vor ihm und fühlte sich, so wie die meiste Zeit seines Lebens, nicht wohl in seiner Haut.
In der Garderobe suchte er sich das hinterste Eck, um sich möglichst ungestört umziehen zu können.
Umständlich schlüpfte er in seine Sporthose, die er grässlich fand. Seine Beine waren mager, er fühlte sich zu dünn und zu schwach.
Fußball. Er hasste Fußball.
Die anderen Jungs grölten.
Im Vorbeigehen schlug ihm jemand auf den Hinterkopf.
Er hörte ein paar Burschen schallend lachen.
Richard suchte verzweifelt den Blickkontakt zum Lehrer, der ihn aber nicht weiter beachtete.
Dann wollte er an einer Gruppe von Burschen vorbei, um sich etwas abseits der Mannschaft zu platzieren, sah aber das Bein nicht, das ihm ein besonders gemeiner Schulkollege stellte und fiel der Nase nach auf den Boden.
Diesmal lachten ausnahmslos alle.
„Der ist ja zu blöd zum Gehen“, brüllte einer, die anderen lachten, bis sie der Lehrer zur Ruhe aufforderte.
„Du blöde Schwuchtel, dich mach ich fertig“, flüsterte der Kollege, der ihm das Bein gestellt hatte im Vorbeigehen und rempelte ihn mit dem Ellbogen an.
Die erste Turnstunde war der Anfang der Hölle.
Richard dachte nicht, dass es noch schlimmer kommen könnte, aber es kam noch schlimmer.
Am Ende der Turnstunde liefen die verschwitzen Burschen in die Garderobe, zogen sich nackt aus und drängten in die Gemeinschaftsduschen.
Bis dahin hatte Richard noch nie einen nackten Burschen gesehen.
Erst als er mit den anderen in der Dusche stand, wusste er, warum ihn sein Gefühl, das gemeinsame Duschen um jeden Preis verhindern zu müssen, nicht trog.
Er wusste jetzt warum.
Es verstörte ihn.
Von den Mitschülern blieb sein viel zu kleiner Penis nicht unbemerkt, welcher eine weitere Angriffsfläche bot, Richard das Leben zur Hölle zu machen
„Wir wussten ja, dass du kein Bub bist!“, grölte die Bande nun beinahe im Chor.
Nun hatte er die Gewissheit.
Er war eine Missgeburt.
Und es war das einzige Mal, dass er mit seinen Schulkollegen geduscht hatte.
Ein einschneidendes Erlebnis, dass er nie vergessen würde und das ihm eindringlich bestätigte, dass er ein Monster war.
Das war der Anfang der langen Tortur des Turnunterrichts, der sich auch in der Handelsakademie fortsetzte.
Romy, Frühjahr 2018, meine Gedanken sind bei Romy
Ich sitze auf Deck 16 eines Kreuzfahrtschiffes, in einer ruhigen Ecke, vor mir die Kulisse von Lissabon.
Die meisten Passagiere sind noch in der Stadt unterwegs.
Auf der linken Seite kann ich die rote Brücke, die an die Golden Gate Bridge von San Francisco erinnert, erblicken.
Ich wünschte, Romy könnte das hier sehen.
Ich wünschte, sie ginge durch die Stadt, würde mit den uralten Straßenbahnen die Hügel hinauf- und hinunterfahren, würde einen Kaffee in einer der unzähligen kleinen Bars neben der Straße trinken und die wunderschön gefliesten, bunten Häuser ansehen.
Ich wünschte, sie würde die Frühlingssonne auf ihrer Haut spüren und dann in die Kühle der Basilika ganz oben am Berg eintauchen.
Ich wünschte, sie könnte den Atlantik sehen und Freude an ein paar Delfinen haben, die neben dem Bug aus dem Wasser springen und mit den 22 Knoten des Schiffes mithalten können, um dann nach einer Weile wieder abzutauchen und aus unserem Blickfeld zu verschwinden.
Ich wünschte, sie würde ein schickes Kleid anziehen, sich auf der Promenade durch die Menschenmenge schlängeln und die glitzernde Treppe hinunterschreiten.
Unten angekommen würden sie ein paar Fotographen in Empfang nehmen und sich darum streiten, wer sie auf das Bild bringen dürfte.
Ich wünschte, sie könnte sich an den polierten Säulen erfreuen und lachend die mit geschmackvollen Teppichböden ausgestatteten Treppenhäuser nach oben laufen.
Ich wünschte, sie könnte das viele blitzende Chrom in den Liften sehen und sich an den prunkvoll ausgestatteten Restaurants erfreuen.
Ich wünschte, sie würde die Broadway-Show am Abend besuchen und sich von den Stimmen und Tanzdarbietungen der Künstler verzaubern lassen.
Ich wünschte sie würde mit dem Bordpersonal flirten und ich bin überzeugt davon, dass sie der „Star“ auf dem Schiff wäre.
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