1 ...6 7 8 10 11 12 ...16 Ihr Lächeln würde sie alle verzaubern.
Ich blicke auf Lissabon und bin traurig.
Ich habe heute Morgen die Kommunikation mit ihr auf meinem Handy blockiert.
Das erste Mal.
Ich werde mich erst wieder melden, wenn ich zuhause bin.
Ich kann sie einfach nicht verstehen und ich schwöre, dass ich es versuche. Immer und immer wieder.
In der Kathedrale habe ich eine Kerze für Romy angezündet.
Aber ich denke, auch das hilft nicht mehr.
Seit mehreren Jahren schwanke ich zwischen Hoffnung und Hoffnungslosigkeit.
Ach, ich weiß, es würde ihr hier gefallen.
Aber die Kraft hat mich verlassen.
Heute ist kein guter Tag.
Ich habe Angst.
Ich kenne keinen einzigen Menschen, der derart stur ist wie sie.
Sie sagt, sie kann nicht akzeptieren, wie sie aussieht.
Sie sagt, sie möchte sich gar nichts mehr auf dieser Welt ansehen.
Sie sagt, sie möchte weg von dieser Welt, in der sie niemand verstehen kann.
Sie sagt, sie möchte in die Schweiz, um zu sterben.
Und sie sagt, ich habe versprochen, ihr zu helfen.
Was zum Teufel soll ich tun?
Romy findet sich männlich, Romy findet sich hässlich.
Aber sie ist das Gegenteil.
Sie ist eine wunderhübsche Frau.
Mit welchen Augen würden sie die fünftausend Passagiere hier auf dem Schiff sehen?
Viele von ihnen würden gerne aussehen wie sie, davon bin ich überzeugt.
Es gibt hier alle möglichen Typen von Menschen.
Dicke, dünne. Schmale Gesichter, runde Gesichter.
Blasse, unscheinbare Charaktere und feurige, lustige Menschen.
Blonde Menschen mit unbändiger Haarpracht, aber auch solche, die sich lieber einen Hut aufsetzen, weil sie nur mit wenigen Haaren gesegnet sind.
Große, kleine, freundliche, mürrische, zufriedene, unglückliche….
Liegt es nicht in uns selbst, das zu sein, was wir sein wollen?
Habe ich nicht jeden Morgen auf das Neue die Wahl glücklich oder unglücklich zu sein?
Nein, nicht nur. Nicht immer. Aber ich habe einen großen Teil meines Schicksals selbst in der Hand.
Ich kann daran arbeiten, zufrieden zu sein, mit dem, was ich habe.
Ich bin gesund. Ich bin auf einem großen Schiff und habe genug, mehr als genug, zu essen.
Ich habe einen tollen Partner und wir können am Abend tanzen gehen. Ich kann meine Beine bewegen, ich habe Arme und ich kann die wunderbare Natur mit meinen Augen bewundern.
Was möchte ich mehr?
„Romy, du hast großartige Schwestern“, sage ich.
Sie blickt teilnahmslos vor sich hin.
„Aber du hast Kinder. Ich kann nie welche bekommen“, murmelt sie.
„Es gibt viele Frauen, die keine Kinder bekommen können, oder die keine wollen“, sage ich zu ihr.
Bei Gott, nicht zum ersten Mal.
„Aber ohne Kinder kann man nicht glücklich werden. Theresa hat das auch gesagt“, meint sie trotzig.
Ich seufze und bin wütend auf Theresa.
„Aber dann müssten sich alle Frauen umbringen, die keine Kinder haben können“, erwidere ich, weiß aber, dass das nichts bringt.
„Ich will aber Kinder. Sonst hat mein Leben keinen Sinn“, dieses Argument macht mich rasend.
Ich bemühe mich ruhig zu bleiben.
„Es gibt Frauen, die entscheiden sich bewusst dafür, dass sie keine Kinder haben werden und führen dann eben ein anderes Leben.
Sie können mehr reisen, sich die Welt ansehen und ihre Partnerschaft genießen.“
„Aber jeder Mann will Kinder“, entgegnet sie.
„Nein, nicht jeder Mann will Kinder“, sage ich bestimmt.
„Ich will aber auch Kinder. Sonst bin ich keine normale Frau“, schmollend schiebt Romy die Unterlippe nach vorne.
Für mich ist diese Diskussion sinnlos.
„Wer sagt, dass du keine Kinder bekommen kannst?“, frage ich, „schließlich warst du schon schwanger.“
„Ja, aber meine Gebärmutter ist durch die männlichen Hormone, die ich jahrelang einnehmen musste, verkümmert und kann sich nicht ordentlich ausdehnen. Du weißt, dass ich eine Curettage hatte und einmal sind die Kinder von allein abgegangen. Ich hätte Zwillinge von Valerio bekommen.“
Ich kann mich gut daran erinnern.
Trotzdem beharre ich auf meiner Meinung, dass Kinder nicht das Allerwichtigste im Leben sind.
Natürlich, wenn man Kinder hat, dann schon.
„Na eben!“, ruft sie triumphierend.
Ich weiß nicht, ob sie mich einfach nicht verstehen will.
„Wenn du keine Kinder hast, dann können sie auch nicht das Allerwichtigste sein“, sage ich resignierend.
„Ich will aber welche“, unser Gespräch dreht sich, wie immer, im Kreis.
„Die wichtigste Person in deinem Leben bist du!“, rufe ich aus und bohre ihr den Zeigefinger in die Brust.
„Wenn du dich nicht selbst liebhast, dann können es die anderen auch nicht“, sage ich mit Nachdruck.
Romy schnaubt verächtlich und verzieht das Gesicht.
„Ich hasse mich aber!“
„Genau, und deshalb darfst du gar keine Kinder bekommen. Du bist psychisch nicht stabil und darfst keine Kinder großziehen. Das wäre unverantwortlich“, ich versuche es auf diese Weise.
„Nein, wäre es nicht! Ich hätte dann jemanden, um den ich mich kümmern und ihn liebhaben könnte“, wehrt sie sich.
„Nein, Romy! Das funktioniert so nicht!“, rufe ich verzweifelt und raufe mir die Haare.
„Du würdest die Kinder missbrauchen, um selbst glücklich zu werden. Du musst vorher an dir arbeiten, und wenn du dich endlich selbst akzeptierst, dann kannst du Kinder bekommen.“ Ich möchte dieses Thema beenden.
„Ist eigentlich egal. Ich möchte sowieso tot sein“, sagt sie betrübt und weiß genau, dass sie mich damit verletzt.
Ich beiße mir auf die Lippen und versuche, mich nicht reizen zu lassen.
„Aber kann man auch glücklich werden, wenn man keine Kinder hat?“, ich habe gewusst, dass es noch nicht vorbei ist.
„Kann man“, ich halte mich kurz.
„Sicher?“, fragt sie eindringlich und zerrt an meiner Schulter. Ich möchte weg von hier.
„Ja, sicher“, sage ich.
Gleich ist es vorbei.
„Ganz ehrlich?“, ich sehe ihr jetzt ins Gesicht.
„Gut“, sagt sie, dreht sich um und geht.
Ich bleibe allein auf dem Gang stehen und atme tief durch.
Richard, Frühjahr 2010, sein letzter Tag
Nachdem ich auch nach dem Essen-Austeilen keinen Zugang mehr zu Richard fand, war ich strikt davon überzeugt, dass er seinen Selbstmord in die Tat umsetzen wollte.
Ich nahm Kontakt zu seiner Schwester auf.
Sandra war außer sich vor Sorge.
Noch vor dem Mittagessen erschien sie mit Gabi, der anderen Schwester auf unserer Krankenstation und wollte mit Richard sprechen, der aber jedes Gespräch verweigerte und sich fürchterlich darüber aufregte, dass seine Schwestern auf die Station gekommen waren.
Dann ließ er uns stehen und meinte, wir sollten ihn gefälligst in Ruhe lassen, er habe sich ja verabschiedet und wir hätten es zu akzeptieren, denn das wäre sein Leben.
Wir überlegten hin und her und kamen zu der Erkenntnis, dass er sich tatsächlich anders benahm als sonst.
Er hatte uns schon mehrmals seinen Selbstmord angekündigt, aber sein Verhalten war diesmal anders.
Die Situation in der Arbeit drohte zu eskalieren.
Ich schickte seine beiden Schwestern, die hilflos im Gang umherstanden und bei den Arbeitskolleginnen und Kollegen nur Verwirrung auslösten, wieder nach Hause mit dem Versprechen, die Situation einem Oberarzt darzulegen und mich später bei ihnen zu melden.
Richard war froh, dass sie wieder weg waren und äußerte sich sehr abfällig über seine Schwestern, was mich in Anbetracht, dass sie sich große Sorgen um ihren kleinen Bruder machten, ärgerte.
Er hätte sich doch am Vorabend schon verabschiedet und seine Entscheidung hätten sie zu akzeptieren.
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