„Aber du bist doch hübsch!“
Ich möchte ihr den schönen Hals umdrehen.
„Ich möchte wunderschön sein“, sagt sie trotzig.
Ich sehe sie von der Seite an.
Ihr Profil ist süß.
Wenn sie das nur selbst sehen könnte.
„Du möchtest hundertfünfzig Prozent Frau sein, Romy! Es reichen aber hundert Prozent. Und du warst immer eine Frau!“, ich versuche wieder, mich zu beherrschen und drehe ihr nicht den Hals um, wie ursprünglich geplant.
„Ich bin ein Monster!“
Oh Gott! Nicht schon wieder.
„Nein. Du bist eine Frau und warst immer eine Frau. Nur das Testosteron hat dich zum Mann gemacht“, ich rede langsam und deutlich.
„War ich ein schöner Mann?“, fragt sie und ihre türkisenen Augen blitzen neugierig.
„Du weißt, dass du ein sehr schöner Mann warst“, sage ich ärgerlich.
„Ha! Jetzt hast du es zugegeben“, ruft sie und reibt sich die Hände, als würde sie sich über irgendetwas besonders freuen. „Aus einem richtigen Mann kann nie eine hübsche Frau werden. Das geht nicht. Ich habe sehr männlich ausgesehen. Und jetzt: schau dir diesen breiten Kiefer an! Ich will das nicht!“
Ich merke, dass die Situation gleich eskaliert.
„Ich finde deinen Kiefer schön“, sage ich betont ruhig.
Romy presst beide Handflächen auf ihre Wangen.
„Aber ich will diesen breiten Kiefer nicht! Weibliche Attribute sind: eine zarte Stirn, ein ovales Gesicht, ein schmaler Kiefer und große Augen. Ich bin ein Mann!“, ruft sie hysterisch und drückt ihre Wangen weiter zusammen.
„Es gibt auch Frauen mit einem breiten Kiefer“, sage ich zum gefühlt achttausendsten Mal zu ihr, „auch meine Schwestern haben einen breiteren Kiefer als ich!“
„Aber ich möchte ein zartes Gesichtchen, so wie deines!“, sie fasst mir ins Gesicht.
Ich mag das nicht.
„Ist doch egal!“, antworte ich zornig, „sei doch froh, dass du nicht so aussiehst wie alle anderen, das wäre doch langweilig!“
„Aber bei dir hat noch nie jemand gedacht, dass du früher einmal ein Mann warst, oder?“ Das ist eine Falle.
„Ja, nein“, was soll ich darauf sagen?
Das Gespräch dreht sich im Kreis. Wie immer.
Natürlich hat mich noch nie jemand gefragt, ob ich schon immer eine Frau war. Ich bin einen Meter sechzig groß, habe lange Haare und sehe aus wie eine Frau eben aussieht.
Romy ist einen Meter vierundsiebzig.
Kein Grund zur Verzweiflung, finde ich.
Sie hat die schönsten Augen, die ich kenne.
Sie hat eine bezaubernde Nase und sehr sinnliche Lippen.
Die Zähne könnten nicht schöner und ebenmäßiger sein.
Wenn sie lächelt, ist sie am bezauberndsten, doch sie lächelt leider viel zu selten.
Sie sieht sich selbst nie lächeln.
Sie sieht im Spiegel etwas anderes als ich. Sie sieht ein Spiegelbild, das sie abgrundtief hasst.
„Vor kurzem in der Straßenbahn“, sie schluckt, es fällt ihr schwer, darüber zu reden.
Aber ich kenne diese Geschichte natürlich schon.
Geduldig höre ich ihr zu.
„Du kannst dir nicht vorstellen, wie das ist, wenn dich jemand in der Straßenbahn anschreit. Vor allen Leuten“, sie stockt.
„Du scheiß Transe! Ihr gehört alle vergast!“
Ich sage nichts.
Was auch.
„Ich will das nicht mehr! Und der hat es auch gemerkt. Ich bin eben keine Frau! Und niemand hat mir geholfen. Sie haben mich alle angestarrt. Alle! Wahrscheinlich haben sie alle dasselbe gedacht!“, ruft sie und möchte meine Bestätigung, die sie aber von mir nicht bekommt.
„Nein, Romy! Das ist Blödsinn. Ich weiß nicht, wie er auf diese Idee gekommen ist“, beginne ich.
„Weil man es eben merkt. Alle merken es!“, unterbricht sie mich.
„Nein, das stimmt nicht! Ich kenne viele Leute, die erstaunt sind und sich das nie gedacht hätten, wenn sie deine Geschichte hören. Alle, mit denen ich geredet habe, sagen „wow, was für eine schöne Frau“!“
Das reimt sich sogar.
„Vielleicht gibt es manche Menschen, die es merken, warum auch immer. Aber es muss dir egal werden. Dass dich in der Straßenbahn keiner verteidigt hat, kann ich nachvollziehen. Ich hätte mich auch nicht getraut gegen so einen dummen, aggressiven Menschen etwas zu sagen. Gut möglich, dass so jemand gleich zuschlägt und das riskiert niemand. Aber ich bin mir sicher, dass du den meisten leidgetan hast“, ich finde meine Argumentation selbst nicht gut.
„Ich möchte in die Schweiz. Bitte Isa, hilf mir“, flüstert sie.
Ich will aber nicht!
Wäre sie unheilbar krank, würde ich vermutlich Sterbehilfe akzeptieren, aber wenn es nur einen einzigen Funken Hoffnung gibt, werde ich es zu verhindern versuchen.
Ich möchte, dass sie lernt, wie man lebt.
Richard, 2008, der Krankenpfleger
Kurz nach sechs Uhr morgens, knapp vor Dienstbeginn hörte man Richard bereits im Gang laut lachen. Er bog mit zwei Kolleginnen um die Ecke.
Seine Haare waren zerzaust, er war blass und ich vermutete richtig.
Er kam direkt aus einer Bar.
„Richard, das kannst du nicht machen!“, tadelte ich ihn als wir allein waren, „du hast zwölf Stunden Dienst und musst dich konzentrieren!“
Er lachte nur.
„Wo warst du denn?“, fragte ich dann doch neugierig.
Er zerrte mich am Arm in die Stationsküche und schloss die Tür hinter uns.
Er lachte schrill.
„Ich habe jemanden kennengelernt“, rief er und redete so laut, dass es vor der Tür sicher auch alle mitbekamen.
„So?“, fragte ich neugierig und war wirklich gespannt.
„Er heißt Armin“, er wartete gespannt auf meine Reaktion.
„Ja, alles klar“, sagte ich und bekam das bestätigt, was ich vermutet hatte.
Richard war also schwul.
„Findest du das schlimm?“, fragte er mich und sein Blick bohrte sich in meinen Augen fest.
Lachend schüttelte ich den Kopf.
„Nein, gar nicht, Richard. Es war mir von Anfang an klar, dass du schwul bist“, ich musste wirklich herzhaft lachen.
Er war so süß!
Den ganzen Tag lief er hinter mir her, um mir bei jeder Gelegenheit zu erzählen, wie zauberhaft der Armin war.
Richard war entzückend.
Diese kindliche Freude, diese Neugierde auf das Unbekannte. Richard war gerade einmal fünfundzwanzig Jahre alt und mir war klar, dass er noch nie eine Beziehung hatte.
In einem der nachfolgenden Nachtdienste, die wir gemeinsam hatten, kam uns Armin kurz besuchen und brachte ein paar leckere Sachen zum Essen.
Armin war etwas größer als Richard, aber nicht minder zart im Körperbau. Er war beinahe ebenso entzückend wie „mein“ Richard.
Ich gönnte ihnen das Verliebtsein von ganzem Herzen.
Richard hatte in der Nähe des Krankenhauses eine kleine Garcionerre angemietet und in den ganzen sieben Jahren, in denen er dort wohnte, durfte ich ihn in der kleinen Wohnung nie besuchen.
Er hatte auch diesbezüglich eine etwas seltsame Art, aber ich akzeptierte es, wie so vieles an seiner schillernden Person.
Allein Armin war es gestattet Richards kleines Reich zu betreten, was mich zugegebenermaßen dennoch wunderte und ein wenig eifersüchtig machte. Aber es war so.
Armin war seine erste große Liebe.
Unser Team im Krankenhaus war ein genialer Haufen aus völlig verschiedenen Persönlichkeiten und wir kamen alle zusammen gut miteinander klar, was allerdings nicht bedeutete, dass manche oft etwas irritiert auf Richards Aussagen reagierten.
Manchmal hatte er tatsächlich eine etwas verstörende Art sich auszudrücken.
Zum Beispiel: Grenzen.
Richard fehlte das Gefühl für Grenzen, für Abstand und für Nähe.
Manches Mal erinnerte er mich an ein Kind, das völlig „überdreht“ ist und nicht merkt, wenn es Papa und Mama einmal „reicht“.
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