Richard, Winter 2006, Arbeit im Krankenhaus
„Was? Der fängt bei uns auf der Krankenstation zu arbeiten an?“, Lydia konnte es kaum glauben. An ihrem Ton war unschwer erkennbar, dass sie ihn nicht leiden konnte.
„Kennst du ihn denn?“, fragte ich sie irritiert und unterdrückte meinen aufkommenden Ärger.
„Ein bisschen“, meinte sie lapidar.
Ich fragte mich, wie man eine Person ein bisschen kennen konnte.
„Wie ist er denn?“, fragte ich auffordernd und hoffte, sie spürte, dass ich ihre Vorurteile verabscheute.
„Er ist ein elender Bauernbub“, meinte sie gehässig, und ich werde diese Worte mein Leben lang nicht vergessen.
Mit dieser Aussage erstarb jegliche Sympathie für diese Arbeitskollegin.
Im selben Augenblick erwachte aber auch mein Beschützerinstinkt für den neuen Arbeitskollegen, den ich vor dieser Tarantel mit ihren verbalen Angriffen beschützen musste.
Ich kannte Richard damals nur flüchtig.
Er fiel durch sein Benehmen und durch seine unmännliche Stimme auf, die zu hoch, zu laut und etwas heiser an den Krankenhauswänden widerhallte.
Er war sehr zart gebaut, lachte unorthodox und hatte neben seiner unmodernen Brille auch eine schreckliche Frisur.
Richard war fast 15 Jahre jünger als ich, weshalb ich ihn als Mann nicht wirklich wahrnahm.
Ich freute mich auf unseren ungewöhnlichen, neuen Arbeitskollegen und konnte es kaum erwarten, ihn in unserem Team zu haben.
Auch mein Chef entsprach nicht meinem Bild eines typischen Vorgesetzten mit seiner jovialen und offenen Art.
Ich dachte mir, dass die beiden sicher gut miteinander auskommen würden, und so sollte es auch sein….
Als Richard schließlich auf unserer Krankenstation zu arbeiten begann, fing auch für mich ein neuer Lebensabschnitt an, denn ich habe ihn zu einem Teil meines Lebens gemacht.
Ich liebe alles, was etwas aus der Reihe tanzt und Richard ist alles andere als normal und angepasst.
Gut möglich, dass ich so etwas anziehe.
Dass Lydia Richard nicht leiden konnte, war mir von Anfang an klar. Sie hatte ihm nie eine Chance gegeben.
Abgesehen davon verließ Lydia bereits ein paar Monate später das Krankenhaus, weil sie ein Kind erwartete.
Wir waren nicht traurig über ihren Abgang.
Richard wurde von den anderen Kollegen und Kolleginnen gut ins Team integriert. Schnell war klar, dass er ein außergewöhnlicher, nicht uninteressanter, aber manchmal sehr merkwürdiger Mensch war.
Richard war anders!
Richard war definitiv anders!
Er wurde von den älteren Kolleginnen bemuttert und bald hatte er eine andere Frisur, einen flotten Schnitt, die Haare mit Gel etwas aufgestellt. Er sah frech aus.
Die unmoderne Brille blieb zuhause und Kontaktlinsen wurden angeschafft.
Seine blau-türkisen Augen mit den fast schwarzen Augenbrauen und den langen dunklen Wimpern wirkten verführerisch.
Aber nur solange er den Mund hielt.
Er war laut, er war schrill, er war unmännlich.
Von den Patienten wurde er sehr unterschiedlich wahrgenommen.
Sein „Schmäh“ war manchmal grenzwertig.
(Schmäh: österreichischer Ausdruck für Humor)
Die einen lachten sich halb kaputt, die anderen waren perplex und froh, wenn er wieder aus dem Zimmer verschwand.
Von einem kleinen Bauerndorf in eine mittelgroße Stadt zu ziehen, hinterließ bereits nach wenigen Wochen Spuren.
Richard war viel unterwegs, kannte schnell einschlägige Bars und trieb sich nächtelang in der Stadt herum.
Es kam auch vor, dass er nach dem Ausgehen um sechs Uhr Früh in der Arbeit erschien, ohne geschlafen zu haben.
Seinem Humor tat das keinen Abbruch und ich lachte mich oft halb tot mit ihm.
Wir arbeiteten gut zusammen.
Richards fachliche Kompetenzen überstiegen bei weitem das durchschnittliche Maß und machten ihn beim ärztlichen Personal unbezahlbar, denn er wusste einfach über alles Bescheid.
Aber gerade seine Intelligenz stand ihm oft im Weg. Wäre er etwas „einfacher gestrickt“, ginge vieles leichter.
Romy, Herbst 2017, sie ist wundeerschön
„Bitte, Isa! Du weißt, dass das mein größter Wunsch ist!“, ruft sie und zerrt wieder einmal an meinem Handgelenk.
Ich versuche ihre Hand abzuschütteln. Es nervt mich, wenn sie an mir herumzerrt.
„Das kann ich nicht machen“, sage ich und fühle mich elend bei diesem Gespräch.
„Doch“, sagt sie mit Nachdruck und lacht.
„Was gibt es da zu lachen?“, frage ich forsch und merke, wie sich meine Stirn in Falten legt. Den Griff um mein Handgelenk kann ich noch immer nicht abschütteln.
Mit der freien Hand greife ich nach ihren Fingern und löse sie mit sanfter Gewalt von meinem Handgelenk.
„Das kannst du schon! Ich möchte das. Du weißt, dass ich mich danach sehne“, sie schaut mich flehend an.
Ich werfe einen kurzen Blick auf ein paar Ausdrucke, die sie mir vor die Nase auf den Tisch geknallt hat.
„Du fährst mit mir in die Schweiz!“, sagt sie mit noch mehr Nachdruck und schaut mich durchdringend an.
Mir ist schlecht.
Ich weiß, dass sie es ernst meint.
„Aber du kannst es trotzdem noch schaffen“, versuche ich zaghaft, denn ich bin mir nicht sicher, ob ihr dazu nicht der Wille und die Stärke fehlen.
„Blödsinn! Du weißt, dass ich es schon immer wollte. Ich schaffe es einfach nicht“, sie schiebt den kleinen Stapel Papier wieder vor meine Nase.
„Romy, ich kann lesen!“, fauche ich und blicke sie böse an.
„Weißt du noch: vor einem Jahr hast du mir versprochen, dass du mit mir in die Schweiz fährst, wenn es mir nicht besser geht. Und es geht mir noch schlechter“, erinnert sie mich.
Oh ja! Warum habe ich so etwas nur gesagt?
Ich kann mich erinnern: sie hat mich unter Druck gesetzt und ich habe nicht damit gerechnet, dass dieses Jahr so schnell vergehen würde.
Wie unvorsichtig von mir!
Abgesehen davon war ich mir sicher, dass ich sie in diesem Jahr davon überzeugen kann, dass das Leben schön oder zumindest lebenswert ist.
Ich sehe sie an.
Sie ist wunderschön.
Es tut weh.
„Du hast nicht alles versucht, damit es dir besser geht“, werfe ich ihr vor und gehe damit in die Offensive.
Anders kann ich mich nicht mehr verteidigen.
„Ich bin grundverschieden. Ich empfinde viele Dinge anders als alle anderen. Ich weiß das“, sagt sie unbeirrt.
„Einen Dreck weißt du!“, rufe ich zornig aus.
„Was hast du dir von dieser Welt bisher angesehen? Du weißt gar nichts! Du sitzt in deiner Wohnung und bemitleidest dich selbst, und wenn du einmal aus deiner Wohnung kommst, dann hast du gleich zwei Dates. Ich begreife das nicht! Alle schauen dich an, weil du so hübsch bist. Du bist sexy, du bist intelligent, du bist etwas Besonderes!“, zetere ich und meine das auch wirklich so.
Ich mache ihr nichts vor!
Das habe ich gar nicht nötig.
„Ich bin nichts Besonderes! Ich bin eine Missgeburt“, erwidert sie und senkt ihr geschundenes Haupt.
Ich möchte gerne vermeiden, dass mich der aufkommende Zorn übermannt, aber ich schaffe es nicht.
„Du gehst einmal aus und hast einen One-Night-Stand. Ich hatte das noch nie!“, ein mageres Argument, ich weiß.
„Wenn man will, hat man immer einen One-Night-Stand. Den Männern ist es egal, mit wem sie nach Hause gehen. Das bedeutet gar nichts“, sie grinst und verdreht dabei die Augen.
„Oh doch, Romy! Keiner nimmt sich eine Hexe mit nach Hause!“, sage ich ruppig.
„Siehst du, jetzt hast du es zugegeben“, triumphiert sie.
„Was?“, rufe ich gereizt. Ich weiß, was kommt.
„Du hast zugegeben, dass ich nicht hübsch bin, und dass es den Männern egal ist, wer mit ihnen schläft, wenn sie nur halbwegs gut aussehen. Und ich will nicht halbwegs gut aussehen. Ich möchte schön sein“, sagt sie und schaut mich auffordernd an.
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