Die Mannschaft des Hospitals beschließt, sich beim Angeln zu entspannen. Fisch soll mal wieder auf den Tisch. Elfriede will unbedingt mit. Heidi übernimmt den Patienten. Sie fahren aber nur um die Ecke zu den Fischteichen. Nach dem Hochwasser musste Tom den Anfahrtsweg wieder herrichten. Durch den weggespülten Damm hat sich das Volumen der unteren Teiche stark verkleinert. Nach dem nächsten Hochwasser könnten sie schon verlandet sein. Aus dem ausgelaufenen Teich bei der Hütte ist eine Schilf- und Rohrkolbenfläche geworden. Sie setzen sich an den oberen Teich. Machen es sich in warmer Kleidung auf Campingstühlen gemütlich, stellen einen Vesperkorb und Thermoskannen neben sich.
Elfriede redet am Stück, bewegt ihre Angel ständig hin und her, fängt ein Fisch nach dem anderen. Redet von Pferden, ihren Zukunftsplänen und über die anderen. Zora erträgt die Dauerberieselung mit stoischer Ruhe. Freddy zeigt nach kurzer Zeit Nerven. Er versucht ihren Redefluss mit Fragen zu unterbrechen.
„Hast du früher geangelt? Mit deinem Papa oder deinen Brüdern vielleicht? Wer so viele Fische fängt, muss doch Erfahrung haben.“
Auf einmal schweigt sie. Von Elfriede kommt vorerst gar nichts. Freddy macht sich Vorwürfe. Er ist zu weit gegangen, denkt er. Nach dem Vorleben zu fragen, ist immer eine heikle Sache. In der Regel wird das vermieden. Viele wollen nicht darauf angesprochen werden, weil es sie sofort traurig macht. Nicht wenige befürchten Depressionen. Die meisten halten es für überlebenswichtig, nur an das Heute und die Zukunft zu denken. Fried weicht aus mit einer Gegenfrage.
„Hast du früher mit deinem Papa oder deinen Brüdern geangelt?“ Dabei schaut sie stur auf die Wasserfläche.
Nun schweigt Freddy. Zora überlegt schon, wie sie die gute Stimmung wiederherstellen kann, als er doch antwortet.
„Ich hatte tatsächlich Brüder. Zwei. In unserer Familie war ich der einzige normale. Mein Vater war Theaterintendant, meine Mutter Opernsängerin, der mittlere Bruder war Profifußballer, mein jüngster, Schlagersänger.“
„Wow“, sagt Zora.
Elfriede zweifelt. „Und das soll man glauben?“
„Beweisen kann ich es nicht. Es ist deine Entscheidung ob du mir glaubst. Aber geangelt habe ich nie. Mit meinen Brüdern war diesbezüglich nichts anzufangen. Der eine opferte seine Zeit der Musik, der andere verbrachte sie auf dem Sportplatz.“
„Und weshalb warst du der einzige normale in der Familie?“ will Zora doch wissen.
„Ich hatte als einziger ein geregeltes Leben und konstantes Einkommen und bin zudem ohne Abitur ausgekommen. Als alle gestorben sind, war ich mit einer Freundin zusammen. Keine große Liebe, keine Kinder. Ich habe weder die Nähe meiner Eltern gesucht, noch die der Brüder. Jeder ist für sich an seinem Wohnort gestorben. Ich habe mich später vergewissert und alle Wohnungen abgeklappert. Auch die von Bekannten und Freunden. Und ich sage euch, die Viren waren gründlich. Als Rettungssanitäter hätte ich eigentlich als erster sterben müssen. Bei uns im Krankenhaus lagen auf einmal überall Leichen. Auch Personal. Die Leute sind schneller gestorben als man sie entsorgen konnte. Noch mehr Infizierte zu holen machte einfach keinen Sinn mehr. Da habe ich mich abgenabelt und verkrochen.“
„Und deine Freundin?“ fragt Elfriede.
„Die hat mich gemieden, weil sie nicht angesteckt werden wollte und ist trotzdem gestorben. Und jetzt will ich wissen, wo du angeln warst.“
Elfriede nickt mehrmals vor sich hin. Als ob sie Freddys Erzählung rekapitulieren würde. Dann:
„Ich war mal mit meinem Kindermädchen angeln. Schwarz. Das war vielleicht eine schöne Zeit. Ihr werdet es nicht glauben, ich kann zwar Deutsch sprechen und lesen, aber immer noch nicht richtig schreiben. Mein Vater war ein hoher EU-Beamter und Franzose. Meine Mutter arbeitete für ein französisches Modemagazin und war Deutsche. Die ersten acht Jahre meines Lebens habe ich in Straßburg verbracht. Dann sind wir, fragt mich nicht wieso, nach Kehl gezogen. Von meinen Eltern habe ich nicht viel gehabt. Aber ich hatte Kindermädchen. Die Straßburger Mädchen habe ich jeden Tag zur Verzweiflung gebracht. Die sollten mich zu einer feinen Dame erziehen. Aber ich war zu zappelig und habe mich ständig schmutzig gemacht.
Die letzte, Conny, die aus Kehl, war sehr geschickt. Sie hatte zwar keine Schulbildung und keinen Beruf erlernt, war aber trotzdem clever. Nachdem sie gemerkt hat was mit mir los ist, formulierte sie eine Abmachung, mit der wir beide sehr gut gefahren sind. Sie sagte: „Ab jetzt mache ich das was du willst und habe nur noch schöne Tage.“ Wir haben uns verschworen. Nach dem Unterricht sind wir durch die Stadt gezogen, auch durch Straßburg, waren Eis essen, in Kinos und haben bis in die Puppen, wie sie sagte, Fern gesehen. Wenn ich am nächsten Morgen zu müde für den Unterricht war, hat sie mir eine Entschuldigung geschrieben. Dann sind wir zum Beispiel angeln gegangen. Oder haben Lagerfeuer gemacht. Da ich leicht lerne, waren die Noten nie schlecht, Conny lobte mich über den grünen Klee, die Eltern waren zufrieden. Dabei waren wir die wahrsten Herumtreiberinnen. Wir kannten sogar Obdachlose.
Und dann kam der Todesengel. Wo meine Eltern gestorben sind, weiß ich nicht. Sie haben uns oft angerufen und gemailt und irgendwann nicht mehr. Eines Montagmorgens stand Conny unten auf der Straße und rief herauf, sie könne nicht mehr kommen. Sie hätte sich angesteckt. Ich müsse nun alleine zurechtkommen. Danach habe ich wochenlang aus der Speisekammer gelebt. Hab erlebt, wie ein Fernsehsender nach dem anderen ausfiel, das Internet abgestellt wurde und zuletzt die Radioprogramme verstummten. Irgendwann trieb mich der Hunger in den nächsten Supermarkt. Ich habe mir eine schöne Wohnung genommen, eine Fantasiewelt ausgedacht und gewöhnte mich ans kalte Waschen. Sehr oft machte ich ein Lagerfeuer, dachte dabei an Conny und hab geheult. Ich bin richtiggehend verwildert. Mit Mofas erkundete ich die Gegend, immer weiter weg, bis ich in Lahr auf die Religiösen gestoßen bin. Aber da war ich schon sehr verwahrlost.“
Auf welche Art sie überlebte, alleine oder mit anderen, mit Kindern, Jugendlichen oder Erwachsenen, will sie scheinbar nicht erzählen. Zora und Freddy warten still auf mehr. Sie wollen Elfriede Gelegenheit geben, schlechte Erlebnisse, die es bestimmt gegeben hat, loszuwerden. Doch das Mädchen schweigt sich aus.
Schließlich: „Schön, dass wir das wissen, Diplomatentochter“, meint Zora anerkennend.
„Und jetzt deine Angelerlebnisse“, fordert die Diplomatentochter.
„Hab keine“, behauptet die ehemalige Medizinstudentin.
„Damit lasse ich mich nicht abspeisen. Was waren deine Eltern, was hast du früher gemacht? Dass du von hier bist, weiß ich inzwischen. Du bist hier auf das alte Gymnasium gegangen.“
„Ich war wie du das einzige Kind. Meine Eltern arbeiteten im Europapark. Ich habe immer Freikarten bekommen. Als Kind kannte ich den Park in und auswendig.“
„Cool“, findet Elfriede. „Ich war mal mit Conny drin. Bei schlechtem Wetter, mitten in der Woche. Weil sie eine Entschuldigung geschrieben hat. Wir hatten die Bahnen praktisch für uns.“
Zora lächelt. „Nachdem ich beschloss Ärztin zu werden, habe ich nur noch gebüffelt und Sport getrieben. Der Park hat mich nicht mehr gereizt. Ich hatte ihn einfach zu häufig besucht. Dann habe ich in Heidelberg studiert, ein paar Kerle ausprobiert, war aber nie verliebt. So einen wie Freddy, ohne Abi“, sie grinst zu ihm hinüber, „gab es dort nicht.“
Auch Tom hat kein Abi, weiß Elfriede. Ist das Zoras Masche?
„Und bist du in Heidelberg geblieben?“
„In der Pandemiepause schickte mich mein Vater zu seinen Eltern nach Berlin. Dort habe ich mich in einem Zimmer eingeschlossen. Als meine Großeltern sich infizierten, sind sie selbstlos in den Keller und dort gestorben. Sonst wäre ich vermutlich gar nicht hier.“
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