„Nehmt euch den Platz den ihr braucht“, bietet Tom an. Er ärgert sich, weil Zora, egal wo sie auftaucht, sofort alle Aufmerksamkeit auf sich zieht.
„Wollt ihr etwas Wein zum Abendbrot?“ fragt Elfriede die Gäste. Sie nicken.
Schon ist die ehemalige Küchenfee im Keller. Das Mädchen weiß natürlich, dass die Erwachsenen unter Alkoholeinfluss gerne erzählen. Und sie will Abenteuer hören. Zurück, stellt sie einen Roten auf den Tisch.
„Elfriede. Wo eigentlich, hängt jetzt unser Speck?“, fragt Stella.
„Der ist leider alle. Habt ihr auf eurer Reise irgendwo Schweine gesehen?“ fragt Fried den Zirkusmann.
Richard schaut zu seiner Partnerin. „Bei Worms, glaube ich, hat jemand ein Schweinestall. Sind bei euch auch so viele tote Wildschweine herumgelegen?“
Die Zirkusleute lassen es sich gutgehen. Dafür unterhalten sie ihre Gastgeber bis tief in die Nacht mit ihren Erlebnissen.
Als am nächsten Tag Elfriede kurz nach zwölf vom Unterricht kommt, beenden die Künstler gerade ihr Frühstück und beginnen mit dem Aufbau. Morgens noch, sah es nach Regen aus. Nun schwebt eine dünne Wolkendecke vor der Sonne. Ein Zirkuszelt wird keins errichtet. Der Möbellaster bietet alles was der Zwergzirkus benötigt. Richard fährt ihn hinter das Haus auf eine ebene Stelle. Senkt die rückwärtige Hebebühne etwas ab, öffnet die Hecktüren weit. Auf ihren Innenflächen befinden sich zwei Gemälde. Links, ein Clown mit buntem Hütchen, riesigen Ohren und roter Knollennase. Rechts, die Silhouette eines Feuerspuckers. Um die Plattform herum drapiert Simone ein blaues Tuch mit gelben Sternen, macht so aus der Hebebühne eine Art Theaterbühne. Richard lehnt noch eine Holztreppe dagegen. Etwa zwei Meter im Laderaum, hängt ein mit bunten Kreisen bemalter Vorhang. Fertig ist die Arena. Tom und die Männer tragen Dielen und Kisten herbei und basteln Zuschauerränge.
Schon um halb zwei sind die provisorischen Bänke besetzt. Hasans Gruppe ist mit Kind und Kegel vertreten. Niemand ist krank zuhause, neugierig erwarten sogar die drei Säuglinge die Vorstellung. Zora sitzt auf der hintersten Bank. Sie befürchtet, weil sie das in ihrer Jugend schon mehrmals erlebt hat, in die Vorstellung miteinbezogen zu werden.
Zirkusmusik erschallt. Der Vorhang geht auf. Richard begrüßt im Clownskostüm sein Publikum, stellt seine Assistentin Simone vor, die ein Ballettkleidchen trägt. Sie ist eine winzige Person und reicht ihm gerade bis zur Brust. Richard holt aus seinen weiten Taschen Bälle und beginnt zu jonglieren. Erst mit drei, dann mir vier. Fünf Bälle jonglierend geht er die Treppe hinunter. Jongliert mehrere Figuren, schleicht dabei an den Zuschauern vorbei, lässt manchmal einen Ball scheinbar auf einen Kopf herabplumpsen. Fängt ihn aber im letzten Moment auf. Hinter dem Vorhang kommt Simone hervor, tritt auf die Bühne, spielt mit einem Diavolo, lässt ihn kreisen und springen, die Zuschauerköpfe drehen sich mit. Unbemerkt wechselt Richard sein Handwerkszeug, jongliert jetzt mit Keulen. Danach verschwindet er hinter dem bunten Vorhang, zieht dabei einen Schwarzen davor. Drinnen ist nun alles finster. Die Musik wechselt zu einem dumpfen Grummeln. Mit vier Fackeln kommt er wieder heraus, Simone zündet sie an. Er jongliert, lässt eine nach deren anderen auf seiner Schuhspitze stehen und kickt sie wieder hoch. Drei schiebt er nacheinander in seinen Mund und verschluckt die Flammen. Genüsslich reibt er sich über den Magen. Zur vierten trinkt er Flüssigkeit und prustet sie vor dem schwarzen Hintergrund über die Fackel, was einige beeindruckende Stichflammen verursacht. Rückwärts, sich für den stürmischen Beifall verneigend, geht er hinter den Vorhang. Anschließend gibt Simone bei orientalischer Musik die Schlangenfrau, vollführt auf der Bühne schlimme Verrenkungen.
Pause. Die Zirkusleute bauen zwei Ständer auf, spannen in Kopfhöhe ein Drahtseil. Doch nach der Pause kommt zuerst Richard im schwarzen Frack und mit Zylinder auf die Bühne. Lässt Bälle, Tücher und eine Plastikrose verschwinden und wieder auftauchen. Geht hinunter und zeigt den Kindern Kartentricks. Holt ihnen Bonbons aus den Ohren und aus Marions Ausschnitt die Rose. Plötzlich steht Simone mit Schirmchen auf dem Seil, hüpft hin und her und ihr Ballettröckchen hüpft mit. In der Zwischenzeit baut unten Richard drei Hocker und einen kleinen Parcours auf. Unauffällig geht er zum Wohnmobil. Nach einem Spagat auf dem Seil klettert Simone herab. Die Musik wird lustig. Richard kommt mit drei kleinen weißen Pudeln zurück, die aufgeregt Simone begrüßen und abküssen. Wie Raubtiere sitzen sie auf den Hockern, springen über Hindernisse, durch Reifen, schlagen Salto. Die Zuschauer klatschen frenetisch. Drei Mal kommt das Pärchen hinter dem Vorhang hervor und verbeugt sich. Danach bleibt das Publikum sitzen und unterhält sich über die Vorstellung.
Am Tag darauf wiederholen sie die Vorstellung. Richard und Simone bleiben eine Woche. Schauen sich die Höfe, Landschaft und Tiere an, lassen keine Mahlzeit aus. Die beiden sind aber kein Paar, sie haben eine rein geschäftliche Beziehung, stellt sich heraus. Denn Richard übernachtet in Katys Wohnung und nutzt ihren Service. Simone nächtigt lieber in gewohnter Umgebung im Wohnmobil. Morgens und abends üben sie neue Tricks und Kunststücke. Abends deshalb, weil die Kinder um den Laster herumlungern. Das eine oder andere will wissen, wie Jonglieren und Feuerschlucken geht. Elfriede übt jeden Tag Diavolo. Für die Kinder spannt Simone in Kniehöhe ein Seil. Sie sollen sich davon überzeugen, dass Seiltanz nicht leicht ist. Die Künstlerin schafft es auf einem Stuhl sitzend, mit zwei Stuhlbeinen auf dem Seil, zu balancieren. In der Höhe traue sie sich noch nicht, verrät sie. Im Nachhinein ist das die Nummer die am meisten erstaunte. Die Künstler nutzen auch Zoras medizinische Fähigkeiten und lassen sich von ihr durchchecken, bevor sie den Hof verlassen. Als der Zirkus Zarazani zu den Religiösen weiterfährt, kann Elfriede schon mit vier Tennisbällen jonglieren.
Danach kennen die Kinder nur noch ein Spiel: Zirkus. Zuerst beknien sie die Erwachsenen, Taxidienste zu leisten, denn es stehen einige „Einkäufe“ an. Gemeinsam suchen sie Geschäfte, in denen es Zauberkästen, Jonglierbälle und Diavolos geben könnte. Dabei trauen sie sich sogar bis nach Lahr und Emmendingen. Begegnen aber niemandem. Wann immer es geht, treffen sich die Kinder um Nummern zu besprechen und zu üben. Die Erwachsenen freuen sich, weil alle so gut miteinander auskommen. Die Hunde freuen sich weniger. Die Freiheit gewohnten Tiere, halten von Dressur wenig oder gar nichts. Nach der ersten verbrannten Hand verbietet Hasan lautstark das Hantieren mit Feuer. Die Kinder haben Feuerschluckverbot. Trotzdem bekommen in der Folgezeit die Erwachsenen einige Vorstellungen geboten.
Der Zirkus hat auch die Erwachsenen kulturell auf trapp gebracht. Einige gründen eine Theatergruppe.
„Früher, nach dem Weltkrieg“, erinnert sich Otmar an Erzählungen seines Vaters, „gab es in jedem Dorf mindestens eine Theatergruppe. Die Leute liebten Freizeitvergnügen die sie nicht viel kosteten. Die Aufführungen fanden in den Sälen der Wirtshäuser statt oder unter freiem Himmel. Manche Dörfer hatten Freilichtbühnen. Bei Theater-Festen wurden an den Ortseingängen große Torbögen errichtet und mit Girlanden Reisig verkleidet. Die Häuser wurden mit Fahnen geschmückt, die Straßen mit gehäckseltem Gras bestreut. Bei den Festumzügen beteiligten sich Blaskapelle, Feuerwehr, Kindergarten, Schule und Vereine.“
„Dann bestanden die Zuschauer vermutlich aus den eigenen Pferden und Rindviechern“, spottet Marion.
Aber auch sie macht beim Theaterspielen mit. Um das Hirn fit zu halten. Als auch Elfriede mitmachen will, wird unter den Erwachsenen gemurrt. Das sommersprossige Energiebündel würde allen die Show stellen. Sie mache doch schon Zirkus, wird sie diplomatisch abgelehnt.
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