Elfriede nimmt ihr Besteck wieder auf und meint noch: „Da steht auch, dass Kinder sich gleichermaßen geistig wie auch körperlich entwickeln sollen. Das Eine ohne das Andere sei Humbug. Deshalb ist es ideal, dass wir zwei uns so gut ergänzen.“
In ihrer Wohnung schwört Mette, beim Wohl der Kinder, sich nie wieder mit Elfriede anzulegen. Ein Schwur, den die Meisten schon getätigt haben. Eigentlich ist an ihr nichts auszusetzen. Der jugendliche Intelligenzbolzen will niemandem etwas Böses, ist den Anderen nur zeitweise etwas suspekt.
Als Zora ihren Sohn zur Welt bringt, können die ersten neun Kinder alle sprechen und gut wandern. Sehr oft marschieren sie den Heuberg hinauf oder in die Stadt hinein, um die Ziegen zu suchen. Keines der Kinder denkt sich etwas dabei, weil Elfriede ein Gewehr auf dem Rücken trägt. Das gehört einfach dazu, wie die Wölfe und der Bär, der letzten Winter aufgetaucht ist. Naturerfahrung ist wichtig. Früh lernen die Kinderschüler welche Pflanzen giftig, welche essbar sind. Jedes kennt Löwenzahn-, Feld- oder Brenneselsalat. Saugt gerne aus Rachenblüten den Nektar heraus, isst die Kerne aus den Sonnenblumen, futtert die essbaren wilden Beeren. Auch die ständig sichtbaren Grasfresser, die in unterschiedlich großen Gruppen in der Landschaft stehen, sind für sie ein gewohnter Anblick. Die Lamas sind für sie genauso normal, wie die vielen Nandus. Die neue Generation wächst mit einem völlig anderen Weltbild heran, als ihre Eltern. Die Natur ist übermächtig, unbedroht und kann von jedem bedenkenlos genutzt werden.
Elfriede sitzt im Labor und schaut konzentriert in das Mikroskop. Ihre Tätigkeit als Kindertante sieht sie lediglich als Nebenbeschäftigung. Konstant lernt sie dazu. Nichts Medizinisches soll ihr unbekannt bleiben. Sie und Zora werden sich immer ähnlicher. Beide stehen oft nebeneinander am Behandlungstisch und ergänzen sich. Gleich groß, gleich dünn, die eine Dunkel, die andere Hell. Vier lange Arme wissen was sie tun müssen.
Am Abend zuvor wurde Zoras dreißigster Geburtstag gefeiert. In der Hüte bei den Fischteichen. Es war eher ein Kinderfest. Wohin auch mit den Kleinen. Das Geburtstagskind organisierte viele Spiele. Bei manchen kämpften die Kinder mit ihren Eltern gegen andere Familien. Die Auswahl an selbstgepressten Säften war genauso groß, wie die Auswahl auf dem Grill. Mit dem Alkohol hielten sich alle zurück. Gelage finden in der Kantine statt. In Toms Keller lagert alles, was das alkoholische Herz begehrt. Selbstgekelterter Wein und selbstgebrannte Schnäpse, neben der Beute aus den Geschäften. Außer Bier.
Zora und Freddy schlafen noch. Meggy schläft neben ihrem Brüderchen im Kinderzimmer. Sie fühlt sich für Urs verantwortlich. Gängelt ihn als verantwortungsvolle ältere Schwester. Urs deshalb, weil kurz vor seiner Geburt bei Toms Haus der Bär aufkreuzte. Mit viel Knallerei wurde er vergrämt. Nicht einmal Marion wollte das herrliche Tier umbringen.
Elfriede sitzt im Labor vor dem Fenster, mit Sicht auf den Hof. Neben ihr liegt ein dickes Buch. Unter dem Mikroskop befindet sich ein Tropfen ihres Blutes. Abwechselnd schaut sie in das Buch und in das Gerät. Vergleicht. Die Tür geht auf. Herein kommt ein fremder, bärtiger junger Mann. Sie war so in ihre Forschung vertieft, dass sie dessen Ankunft übersehen hat.
„Hallo“, sagt der junge Mann und grinst, als ob er sie kennen würde.
Elfriede macht keine Miene des Erkennens. Betrachtet ihn mit unverändertem Gesichtsausdruck, als ob sie weiter forschen würde. Dann folgt ein unemotionales: „Hallo. Dich kenne ich doch.“
„Ich möchte mich rasieren lassen“, sagt er spitzbübisch.
„Dafür ist Otmar zuständig. Ich kann das nämlich nicht.“
Das Grinsen verschwindet. Er hat mit einem anderen Empfang gerechnet.
„Was machst du denn da so Wichtiges?“
„Ich vergleiche Kokken“.
„Was für Dinger?“
„Streptokokken, Pneumokokken, Staphylokokken, Diplokokken, Tetrakokken, Gonokokken. Die leben auf und in deinem Körper und können dich furchtbar krank machen. Und ich muss sie erkennen und auseinanderhalten können.“
„Sehr interessant“, meint der junge Mann verschnupft. „Kann ich hier irgendwo unterkommen?“
„Ich habe leider keine Zeit. Und wenn du ein Zimmer suchst, wende dich an Tom. Bier gibt’s dort aber keins.“
Sie heftet ihr Auge wieder an das Mikroskop, schaut auf die Kokken in ihrem dicken Buch.
Der junge Mann dem diese Ignoranz wiederfährt, ist ihre einstige Liebe. Wie ein getretener Hund schaut Dennis ihr noch eine Weile ungläubig zu. Verlässt niedergeschlagen das Labor des Hospitals.
Elfriede weigert sich, mit ihrer ehemaligen Liebe zu sprechen. Mehrmals wird sie von Tom und anderen angefunkt. Dennis muss den Tag auf dem Hof verbringen und die Nacht auf Toms Couch. Am Montagmorgen wartet der Besucher vor der Kindergrippe auf sie. Sie rast mit dem Rad zur Schule, bremst hart vor dem Eingang und lehnt es an die Wand.
„Lass mich in Ruhe, sonst bekommst du was auf die Nase“, fährt sie ihn an.
Die Zeit reicht ihm gerade um einen Satz zu rufen. „Soll ich mir ein paar Knochen brechen, damit ich in deine Nähe komme?“
„Das würde mir imponieren. Dann hättest du Chancen, auf dem OP-Tisch mit mir zu sprechen. Bevor ich dich ins Reich der Träume schicke.“ Sie knallt die Eingangstür zu.
Elfriedes Verhalten ist in aller Munde. Niemand kann sich so recht auf ihre barsche Ablehnung einen Reim machen. Abends will sie sich, mit dem Essen auf dem Tablett, hinters Hospital in den Garten verdrücken. Sie wird von Zora abgefangen.
„Wir reden nun von Frau zu Frau. Was ist dein Problem mit Dennis? Der ist extra wegen dir hergekommen. Er will bei uns bleiben.“
Elfriede setzt das Tablet auf dem Gartentisch ab. Nimmt auf der Bank Platz. Starrt grimmig vor sich hin und überlegt, ob sie überhaupt mit Zora reden soll.
Zora setzt sich ihr gegenüber. „Du wirst ihm jetzt öfters begegnen. Das könnte für dich knifflig werden. Wie willst du dich ihm gegenüber verhalten? Wenn du ihn ständig zur Sau machst, belastet das die Gemeinschaft. Unfrieden will hier niemand.“
„Ich habe mir unbeschreiblich viele Mühe gemacht, ihn aus dem Kopf zu bekommen“, faucht Elfriede. „Und nun taucht diese Pfeife hier auf.“
Die Dunkle schüttelt unwillig ihren roten Pferdeschwanz. „Wieso denn Pfeife? Besonders ungeschickt habe ich ihn nicht in Erinnerung.“
Die Blonde nimmt ein Messer und lässt es in den Fingern kreisen. „Ich habe dort gesehen, was für ein Waschlappen er ist. Er hat sich von seiner Freundin herumkommandieren lassen. So einen will ich nicht.“
„Er kann kein Waschlappen sein. Immerhin traut er sich eine gesicherte Existenz aufzugeben. Er hat sich von seiner Freundin und Gruppe getrennt, um bei Fremden weiterzuleben.“
„Wer weiß, was für Hintergedanken er hat. Vielleicht soll er nur bei uns spionieren und verschwindet dann wieder.“
Zora kämpft mit ihrer Geduld. „Wenn ein Mann macht was seine Frau verlangt, ist das noch lange keine Schwäche. Er unterdrückt sie nicht und berücksichtigt ihre Wünsche. Das heißt, dass er anständig ist und sie toleriert. Eine Frau kann froh sein, wenn sie an so einen gerät. Es gibt bestimmt nicht wenige Männer, die das Frauen Überangebot für ihre Zwecke missbrauchen und die Frauen ausnutzen.“
Fried schaut Zora direkt in die Augen. „Ich sehe das anders. Die Männer die auf ihre Frauen hören, haben selber nicht viel los. Haben keine gute Ideen und keine Eigeninitiative. Diese Männer wird man ewig leiten müssen. Und so einen kann ich nicht gebrauchen.“
Zora wird nun fast wütend. „Ich sehe das so, dass du nie einen Mann finden wirst, der dir das Wasser reichen kann. Du wirst froh sein müssen, wenn du überhaupt einen abbekommst. Welcher Mann will schon eine Frau, der er in allen Belangen unterlegen ist. Sein Leben würde aus Minderwertigkeitskomplexen bestehen.“
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