Elfriede verliert an Fröhlichkeit. Liebeskummer in diesem Alter ist Drama, Katastrophe und Weltuntergang zugleich. Sie wird ungesellig und bleibt für sich. Geht nicht mehr zur Kantine hinüber, um keine dummen Fragen beantworten zu müssen. Die Geige verstaubt unberührt in ihrem Zimmer. Sie schwänzt auch den Unterricht, zu dem man sie nicht zwingen kann. Der Unterricht verlaufe ihr zu schleppend, behauptet sie. Selbständig lernt sie jetzt aus Büchern und schafft alle drei Monate ein Schuljahr. Wenn sie etwas nicht versteht, geht sie abends zu Theresa und bittet um Erklärung. Nebenher lernt sie bei Zora und in medizinischen Büchern. Aber oft sieht Zora ihr Sorgenkind joggen. Sie will den Kopf freibekommen, denkt sie sich. Manchmal sieht sie Elfriede mit dem Rad wegfahren oder zurückkommen. Wenn sie weiterhin nach Gold sucht, hat sie ihre Erwartungen noch nicht eingeschränkt.
Auf die Medizinerin der Gruppe und ihren Rettungssanitäter warten heikle Aufgaben. Viele Kinder müssen gesund auf die Welt gebracht werden. Stella wird Mutter eines Sohnes. Heidi auch. Beide Geburten verlaufen ohne Komplikationen. Die werdenden Mütter atmen auf. Oft bekommt das medizinische Personal wochenlang nichts zu tun und manchmal geht es Schlag auf Schlag, wird es durch Notfälle aus dem Alltag gerissen. Als Emmas Wehen beginnen und Zora gerade ihren Arztkoffer packt, funkt ein aufgeregter Roman an.
„Der unsägliche Dietmar hat sich mit der Motorsäge verletzt. Er blutet wie ein Schwein. Droht zu verbluten.“
„Den Mann nicht bewegen, Blutung abpressen“, ruft sie ins Gerät. „Sein Puls darf sich nicht erhöhen. Schocklage.“
Dank ihres Erste-Hilfe-Unterrichts weiß jeder was das ist. Freddy ist nicht da. Er schaut sich gerade im Schwarzwald um. Zora muss die Blutung selber stillen. Fried findet sie in ihrem Zimmer und nimmt sie als Fahrerin und Assistentin mit. Nimmt Meggy auf den Schoß. Unterwegs schickt sie Heidi zu Emma. Zora spürt Stress, weil sie noch nicht einschätzen kann, wo ihre Hilfe dringender benötigt wird.
Dietmar liegt hinter dem Haus auf der Erde. Er ist voller Blut. Gesicht und Oberkörper sind gleichermaßen rot. Aber nirgends pulsiert es heraus. Zora wird sofort ruhiger. Sie drückt jemanden Meggy in die Arme. Das Hemd wird vom Oberkörper geschnitten, das Unterhemd auch. Nun sieht sie, die Schulter ist verletzt. Keine Schlagader getroffen. Keine Lebensgefahr. Doch sieht die Wunde extrem hässlich aus. Die ölige Kette der Säge hat das Fleisch zerfetzt. Dietmar ist ansprechbar.
„Aus einem nicht nachvollziehbaren Grund“, murmelt er, „ist das Schwert zurückgeschlagen und auf meine Schulter geknallt. Dabei wurde auch das Kinn getroffen.“
„Da nutzt auch eine Schnittschutzhose nichts“, meint Elfriede, die sich die matschigen Wunden genau betrachtet.
„Du weißt, dass ich keine Schönheitschirurgien bin?“ fragt Zora, während sie die Wunden freitupft. Dietmar enthält sich des Kommentars. Beim Sprechen tut ihm der Kiefer weh.
„Das Fleisch ist so zerfetz, das kann ich nicht einmal nähen. Da kann ich nur das lose Zeug wegschneiden. Und das Kinn wird nicht mehr gleichmäßig rund sein.“
Der Verletzte ist schockiert. Schließt seine Augen.
„Die große Kunst ist nun, diese hässliche Wunde sauber zu bekommen. Wir nehmen dich mit. Auf dem Tisch mit Beleuchtung sehe ich die Holzsplitter besser.“
Zora gibt ihm eine Spritze gegen die Schmerzen und lässt ihn einladen.
Sie funkt Heidi und Emma an. Das Kind drängt heraus, ist die Antwort. Roman fährt mit. Elfriede lässt Zora bei Emma heraus und fährt weiter zum Hospital. Dietmar muss aussteigen und sich drinnen auf den Behandlungstisch legen.
„Im Prinzip ist das wie eine etwas tiefere Exkoriation. Wir können nicht warten, bis Zora zurückkommt“, sagt sie sachlich und selbstsicher. „So eine Geburt kann Tage dauern. Und wo Freddy ist, weiß keiner.“
Ohne Ärztin, Rettungssanitäter und Krankenschwester, beginnt sie mit der Behandlung. Mit einer Pinzette sucht sie nach Dreck. Mit einem Skalpell schneidet sie lose Haut- und Fleischfetzen weg. Der Patient verzieht einige Male sein Gesicht.
„Kindermachen ist anscheinend einfacher als Sägen“, spricht sie durch den Mundschutz. „Vor allem schmerzfreier.“
Dietmar weiß genauso wenig wie Roman was er davon halten soll. Elfriede legt Pinzette und Schere weg. Mit einem sterilen Tuch tupft sie die Wunden aus. Sucht und holt im Medikamentenschrank eine große Tube. Aus der drückt sie jede Menge rote Pampe heraus, verteilt sie auf den Wunden und grunzt zufrieden.
„Das Zeug desinfiziert und beschleunigt die Wundheilung. Leider färbt es auch. Deshalb lege ich eine Plastikhaut darüber. Dann erst kommt der Verband drüber. Die Wunden müssen matschig gehalten werden. So bildet sich kein Narbengewebe. Roman, du kannst solange seinen Schlafanzug und seine Toilettenartikel holen. Vielleicht noch was zum Lesen.“
„Muss er hierbleiben?“
„Der Patient sollte zehn Tage lang ruhen.“
Dietmar schaut wie ein Fragezeichen. Weiß es aber auch nicht besser. Roman schüttelt den Kopf und trollt sich.
Spät abends kommt Zora zurück. Fried und Freddy sitzen am Küchentisch und essen Spaghetti mit Tomatensoße und Dosenwurst.
„Und?“ fragt Freddy.
„Ein Mädchen. Gesund und quicklebendig. Was ist mit dem Sägekünstler?“
Elfriede erstattet Bericht.
Zora nimmt ihn zur Kenntnis. „Dich kann man einfach gebrauchen“, lobt sie. „Den lassen wir übermorgen nach Hause. Er kann auch bei Hasan rumliegen.“
Bald darauf schenkt Calendula einem Sohn das Leben. Als letzte gebärt Gisela eine Tochter. Da sind Zora und Bärbel schon wieder schwanger. Neun Kleinkinder wachsen nun heran. Weitere sollen folgen. Der Kindergarten und die Schule warten schön herausgeputzt auf ihre Verwendung. Die Gemeinschaft merkt ziemlich schnell, dass Säuglinge und Kleinkinder sehr viel ihrer Zeit beanspruchen. Zeit, die vorher großzügig zur Verfügung stand und mit Ausflügen, Spielen, Feiern und Filmen gefüllt wurde. Jetzt können die Frauen nicht mehr in den Garten rennen, wie es ihnen gerade einfällt. Die Obsternte muss umfangreich geplant werden. Jederzeit kann ein Kind nach der Brust, dem Fläschchen oder einer frischen Windel schreien. Wenn ein Kind kränkelt, fällt auch die Mutter aus, weil sie voller Sorge bei ihrem Winzling bleibt und ihn beobachtet. Auch das Kantinenessen leidet unter den Kindern. In den ungünstigsten Momenten müssen die Köchinnen ihre Kinder füttern oder wickeln. So manches brennt an, danach stinkt das ganze Haus. Das Allerschlimmste ist, wenn das Haus nach Verbranntem stinkt und das Essen trotzdem nicht rechtzeitig fertig ist. Das Leben ist mit Kindern lange nicht mehr so übersichtlich wie zuvor. Und es ist nerviger. Die Freude über den gesunden Nachwuchs wird fast täglich getrübt. Vor allem befinden sich in der Gruppe viele, die zu wenig Schlaf finden und schnell gereizt sind. Auch kinderlose. Besonders viel Rabatz machen Leas und Stellas Kinder. Am liebsten in der Nacht. Mette und Max, die in der Dachwohnung leben, schlägt das nächtliche Galama auf den Magen. Sie beantragen Urlaub und erholen sich eine Woche lang in einer Villa.
Zora und Freddy sitzen in Unterhemden und Shorts auf der Wohnzimmercouch. Die kleine Meggy, die nun laufen kann, schlummert süß in ihrem Bettchen. So haben sie die Eltern am liebsten. Still ist gleich süß. Sie überlegen, ob sie sich einen Film anschauen sollen. Doch dazu kommt es nicht.
„Was macht den unser Sohn?“ sagt Freddy, und streichelt ihr über den kaum sichtbaren Bauch. Dann gleiten seine Fingerspitzen ganz sanft ihren Arm entlang.
Zora bekommt ein warmes Lächeln. „Der freut sich über die Zärtlichkeiten.“
Die Finger gleiten über einen Schenkel bis zu den Zehenspitzen und kommen über das andere Bein wieder auf den Bauch zurück. Von dort gehen beide Hände höher. Sie nimmt sein Gesicht in beide Hände und küsst ihn. Intensiv. Freddy küsst mit. Die Küsse werden feuchter. Vier Hände suchen nun nach glatter, nackter Haut.
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