Walter betreute seit über zwanzig Jahren die Außenstelle der Polizei in Golddorf. Er kannte jeden Dorfbewohner mit Namen und war bei den Leuten beliebt, weil er sehr unkonventionell war, was ihm hin und wieder Schwierigkeiten mit seiner vorgesetzten Dienststelle in Stralsund brachte. Was wussten die Städter schon vom Dorfleben?
Peter war seit drei Jahren dabei und eigentlich ziemlich grummelig, dass er auf so ein kleines Dorf versetzt worden war. Mit der Zeit begann er jedoch sich in dem kleinen Ort wohlzufühlen und die Vorzüge des Landlebens zu genießen. Mit Walter hatte er einen erfahrenen und verständnisvollen Chef. Es war richtig gemütlich hier, denn außer ein paar Verkehrsdelikten, gelegentlichen Streitereien der Dorfbewohner untereinander und hier und da Problemchen mit den Feriengästen passierte nicht viel und die Tage liefen gleichmäßig dahin. Obwohl erst Mitte dreißig, merkte Peter, dass ihm dieses beschauliche Leben gefiel. Stralsund war ja nicht weit und er konnte wann immer er wollte dort hinfahren, wenn ihm nach Stadt war. Nur heute, ja heute wäre er wirklich tausend Mal lieber in der warmen Wachstube geblieben. Aber es half nichts, Dienst war Dienst und wenn Walter dienstlich wurde, dann gab es kein Pardon.
„Wo bleibst du denn so lange, verflucht,“ rief Walter aufgebracht von draußen, „ich habe schon das ganze Auto freigeschaufelt und -gefegt.“
Peter stürzte schuldbewusst aus der Reviertür zum Beifahrersitz. Er wollte sich geschickt an Walter vorbeischlängeln, aber dieser fing ihn ab und kniff ihn in den Arm.
„Faulpelz, mir altem Mann die ganze Arbeit zu überlassen. So geht das nicht, da reden wir nochmal drüber. Aber jetzt nichts wie los.“
Walter startete den Mercedes, der, obschon ein Diesel, nach kurzer Vorwärmung ansprang und lenkte ihn vom Parkplatz auf die Straße.
„Sag mal,“ versuchte es Peter unverbindlich dienstlich, „was meintest du mit einem Verdacht?“
„Ach nichts, lass uns erstmal vor Ort sein, dann sehen wir weiter.“
Peter spürte, weitere Fragen würden nichts bringen, und so schwieg er. Am Abzweig nach Labertin waren die Autospuren von Dr. Gerd Fernow schon wieder zugeschneit. Jedenfalls dachten weder Walter Jensen geschweige denn Peter Braumann daran, dass das vorhin die Dorfstraße entlangfahrende Auto nach Labertin abgebogen sein könnte. Was für ein Glück für Fernow und die Rammer's.
Als die beiden Polizisten den Hafen von Bahrenhoop erreichten, hielten sie rechts neben dem Kreisverkehr und stiegen aus. „Wo willst du hin?“ fragte Peter, als er neben dem Wagen stand und vorschriftsmäßig seine Mütze aufsetzte.
„Auf die Insel.“
„Zu Fuß?“
„Wie sonst, meinst du, wir riskieren es mit dem Auto rüberzufahren? Nichts da, ein bißchen frische Luft wird uns guttun.“
„Könnte ich drauf verzichten,“ kam es murrend zurück. Das hatte Walter schon nicht mehr gehört, denn er war bereits vorausgegangen. Peter riss sich zusammen und stolperte hinterher.
*
In Rekordzeit war Hilmar Rammer samt Schlitten auf seinen Skiern über das Eis geglitten. Gelegentlich hatte er gestoppt, Gesche zurecktgerückt und ihr immer wieder gut zugeredet. „Komm Kleine, halt durch, wir haben es gleich geschafft.“
Sein Haus war heute abend hell erleuchtet, damit Gerd Fernow sein Ziel bei dem weiterhin anhaltenden Schneesturm schon von weitem ausmachen konnte. Beide Männer erreichten aus verschiedenen Richtungen gleichzeitig das Rammersche Haus. Sonja empfing sie in der offenen Haustür. Gerd Fernow verlor keine Zeit, inspizierte Gesche und gab kurz und knapp seine Anweisungen.
Sonja und Hilmar fügten sich ohne zu murren. Hilmar trug Gesche vorsichtig in die Küche und legte sie auf den Küchentisch, den Sonja wie von ihrem Mann aufgetragen zum Operationstisch umfunktioniert hatte. Der Tisch war gepolstert mit einer Isomatte, darauf mehrere Lagen Wolldecken und ganz zuoberst ein blütenweißes Laken und ein weiches Kopfkissen. Als wäre sie zerbrechliches Glas bettete Hilmar die wimmernde Gesche auf dem Küchentisch.
Dr. Gerd Fernow spritzte ihr ein leichtes Schmerzmittel und bat Sonja, Gesches Oberkörper soweit zu entkleiden, damit er die verletzte Schulter untersuchen konnte. Pullover und T-Shirt waren so mit der Wunde verklebt, dass Sonja kurzerhand mit einer großen Schere drumrumschnitt.
„So Gerd, den Rest musst du selber freilegen. Ich habe Angst, die blutverkrustete Wunde wieder aufzureißen.“
„Bring' mir genügend heißes Wasser Sonja, damit ich die Kruste aufweichen und die Wunde säubern kann.“ Fernow zog konzentriert eine weitere Spritze auf.
„Was denn jetzt noch?“, fragte Hilmar.
„Ich gebe ihr vorsichtshalber noch eine Thetanusspritze, sicher ist sicher, nicht dass sie noch 'ne Blutvergiftung kriegt.“
Sonja brachte eine vorbereitete Schüssel, einen sauberen Lappen und reichte beides Gerd. Der tauchte den Lappen ins heiße Wasser und legte ihn behutsam mit geübter Hand fast nass auf die Wunde. Diesen Vorgang wiederholte er ein paar Mal. Die verklebten Stoffteile lösten sich nach und nach und er tupfte vorsichtig das die Wunde umgebende verkrustete Blut ab. Die Blutung hatte nachgelassen. Dann untersuchte er die freigelegte Wunde und wiegte den Kopf bedenklich hin und her. Gesche schwankte zwischen kurzen hellen Augenblicken und bleierner Ohnmacht.
„Was ist, kannst du sie retten? Mach' los, bitte, sag' endlich was!“, sagte Hilmar forsch um seine Ängste zu übertünchen.
„Sie ist schon ziemlich unterkühlt und hat eine ganze Menge Blut verloren, aber sie ist jung und stark, das müsste sie packen. Mein lieber Freund,“ damit meinte er Hilmar, „du hast großes Glück gehabt, es ist nur ein Streifschuss. Zwar eine ziemliche Wunde, aber es steckt keine Kugel drin. Los jetzt, wir dürfen keine Zeit mehr verlieren. Sonja, bring' uns heißen Tee und versuche, ihn Gesche in kleinen Schlucken einzuflößen und du Hilmar assistierst mir.“
Hilmar stöhnte, „muss das sein. Mir wird ganz schwummerig.“
„Jetzt reiß dich mal zusammen, du schießt Keiler und Wild, nimmst die Tiere aus und bei dieser Sache, die du dir übrigens selbst eingebrockt hast, willst du schlappmachen?! Kommt nicht in Frage, ich brauche deine Unterstützung. Los jetzt.“
Hilmar atmete tief durch und stellte sich an Fernow's Seite. Der grinste, „na also, geht doch.“
Unabhängig voneinander nahmen sich sowohl Sonja als auch Hilmar vor, nach dieser Sache, so sie denn hoffentlich gut ausging, ihr Leben zu ändern. Ruhig machte Dr. Gerd Fernow seine Arbeit, ganz der professionelle Arzt, der er auch heute noch war. Sonja eilte geschäftig hin und her, Hilmar unterstützte den Doc. Nachdem Fernow die Schulter verbunden hatte, sah er von seiner Arbeit auf und strahlte Sonja und Hilmar an.
„Geschafft, ich habe getan, was möglich war, den Rest muss das Kind“, wie er Gesche immer noch bezeichnete, weil er sie tatsächlich seit ihren Kindertagen kannte, “alleine schaffen. Heute Nacht müsst ihr beide abwechselnd Wache halten, falls Komplikationen auftauchen, ruft ihr an.“
„Was denn für Komplikationen?“, fragte Sonja zaghaft und ängstlich.
„Sonja, stell' dich doch nicht so blöd an,“ sagte Gerd Fernow ungehalten und Hilmar nickte zustimmend. „Gesche könnte beispielsweise hohes Fieber bekommen, oder Probleme mit dem Kreislauf. Auch ein Schock ist nicht auszuschließen. Sie ist längst nicht über den Berg. Morgen früh komme ich auf jeden Fall und dann bleibe ich bei ihr, damit ihr in Ruhe eine Mütze voll Schlaf kriegt. Die erste Wache übernimmst du, Hilmar, damit Sonja eine kräftige Brühe kochen kann,“ Fernow grinste süffisant, „Fleisch und Knochen dürftet ihr ja genug im Haus haben. Alle Stunde flößt ihr Gesche eine Tasse davon ein, nur eine Tasse, nicht mehr. Klar?“
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