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Kommissarin Britta Ohlsson saß an diesem Sonntagabend an ihrem Schreibtisch und beobachtete die rieselnden Schneeflocken vor ihrem Fenster. Sie hatte schon einen vorwitzigen Ausblick von ihrem Büro hoch oben im alten Speicher auf der Hafeninsel. Über den Sund sah sie direkt zur Insel Rügen. Heute jedoch verschwamm diese hinter einem Schneeschleier, ebenso wie Altefähr, der kleine Ort am Südrand der Insel.
Eine angenehme Stille hüllte sie ein, kein geschäftiges Treiben unten wie im Sommer, auch die Schiffe konnten seit einigen Wochen nicht mehr fahren, der Strelasund war zugefroren. Britta fühlte sich privilegiert, während ihrer Bürostunden einen solch wunderbaren Ausblick zu haben und es fiel ihr hin und wieder echt schwer, sich davon loszureißen.
In den vergangenen zwei Stunden hatte sie einiges aufgearbeitet, was im Tagesgeschäft an Schreibkram liegengeblieben war, aber dennoch erledigt werden musste. Britta schob solche Arbeiten gerne auf, weil sie viel lieber unterwegs war oder recherchierte, als lästige Berichte zu schreiben, Formulare auszufüllen oder ähnliches. Aber auch das gehörte zum Polizeiberuf und musste irgendwann gemacht werden. Alles konnte sie auch nicht auf ihre Kollegen abschieben. Offiziell war sie schon weg, hatte sich bereits ausgetragen, aber sie wollte noch einen Moment einfach dasitzen, den Schneeflocken zuschauen und nachdenken.
Britta und ihre kleine Tochter Merle lebten in einer Zweizimmerwohnung in der Seestraße, also nur ein paar Schritte von ihrem Büro auf der Hafeninsel entfernt. Die Wohnung lag aber im Erdgeschoss und sie hatte keinen freien Blick auf's Wasser, da Bäume ihr diese Sicht versperrten.
Diese unverstellte Aussicht hatte sie nur von ihrem Bürofenster aus, weshalb sie gelegentlich auch nach getaner Arbeit, wenn sie allein war, auf ihrem Stuhl sitzenblieb und nachdachte oder träumte. Merles Vater hatte sie kurz nach der Geburt des Kindes verlassen und so zog sie das Mädchen alleine groß. Britta liebte ihre Tochter über alles und es war ein Segen, dass ihre Eltern in der Nähe, in der Sarnowstraße, wohnten und sich viel um Merle kümmerten. Vormittags ging die Kleine in den Kindergarten und nachmittags war sie meist bei Oma und Opa, die sie vom Kindergarten abholten und anschließend liebevoll betreuten. Merle war gern bei ihren Großeltern, aber manchmal wünschte sie sich, dass ihre Mutter mehr Zeit für sie hätte. Britta hätte das einerseits auch gern gehabt, aber andererseits liebte sie ihren Beruf und konnte sich beim besten Willen nicht vorstellen, diesen aufzugeben. Dazu kam, dass sie Geld verdienen musste. Sie seufzte, es ist nun mal wie es ist, damit müssen Merle und ich eben klarkommen.
Britta war gleich nach der Schule zur Polizei gegangen und fleißig und kontinuierlich ihrem Weg nach oben gefolgt. Seit einigen Jahren war sie Kommissarin und damit Chefin eines kleinen Teams. Nach einigen Anfangsschwierigkeiten wurde sie heute uneingeschränkt respektiert und sorgte mit ihrer symphatischen Art für ein entspanntes Verhältnis zu ihren Untergebenen.
Sie war eine attraktive Frau, hatte bis auf die Größe verblüffende Ähnlichkeit mit Ingrid Bergman, was sicher auf ihre schwedischen Wurzeln zurückzuführen war. Meist war sie ausgeglichen und mit ihrem Leben bis auf die wenige Zeit für Merle zufrieden, was sie auch ausstrahlte. Nur manchmal ging ihr Temperament mit ihr durch, dann konnte sie richtig schäumen vor Wut, wofür sie sich hinterher meist schämte und blumenreich entschuldigte. Sie lächelte in sich hinein, wer ist schon perfekt?
Das Telefon klingelte und sie landete unbarmherzig in der Wirklichkeit. Nanu, wer ist das denn um diese Zeit, murmelte Britta vor sich hin, offiziell ist Sonntagabend doch niemand im Büro. Leider verfügte die Dienststelle noch über ältere Telefone ohne Display, auf dem die Nummer des Anrufers zu sehen war und daher zögerte sie für einen kurzen Moment, den Hörer abzunehmen. Dann siegte ihre Neugier und sie meldete sich: „Britta Ohlsson, Kommissariat Stralsund.“
„Oh, Frau Ohlsson, gut, dass ich sie erreiche, hier ist Walter Jensen von der Dienststelle in Golddorf. Entschuldigen sie die Störung, aber da ich weiß, dass sie manchmal auch Sonntags im Büro sind, habe ich es einfach versucht. Es geht um Folgendes: Ein anonymer Anrufer erzählte von einem Schuss, den er angeblich gehört haben will in Bahrenhoop oder Umgebung.“
„Ja und?“
„Nun, mehr wissen mein Kollege und ich auch nicht. Der Anrufer sprach nur von einem Schuss. Was sollen wir tun?“
„Hm, da draußen sind doch auch Jäger auf der Pirsch, soweit ich weiß. Kann es nicht sein, dass einer von ihnen geschossen hat?“
„Ja, könnte theoretisch sein, aber bei solchem Sauwetter wie heute abend ist das eher unwahrscheinlich, außer...,“ Jensen zögerte weiterzusprechen.
„...was außer?“ hakte Britta nach,
„außer es war ein Wilderer unterwegs, für den wäre dieses Wetter ideal.“
„Verstehe, und, haben Sie jemanden im Visier?“
„Nicht direkt, ich weiß auch nur von Gerüchten, die in der Gegend kursieren. Nichts Konkretes, nur, dass wohl manchmal Wilderer auf der 'Tannennadel' zuschlagen.“
„Wo bitte? Sie reden in Rätseln.“
„Na hier, auf der langgestreckten von dichtem Wald, hauptsächlich eben Tannen, bestandenen Insel zwischen Ostsee und Bodden, dem Bahrenhooper Kliff vorgelagert. Wird im Volksmund 'Tannennadel' genannt.“
„Und wie heißt sie wirklich?“
„Keine Ahnung, ansonsten wird einfach von 'der Insel' gesprochen und dann wissen auch alle, was gemeint ist.“
„Sagen sie Herr Jensen, steht die 'Tannennadel',“ Britta Ohlsson nahm sich vor die Insel von jetzt ab auch so zu nennen, „nicht unter Naturschutz? Die darf doch meines Wissens niemand betreten, außer einmal im Jahr die Vogelschützer, oder bin ich da falsch informiert?“
„Nein, nein, das stimmt offiziell, aber es gibt leider immer wieder Ignoranten, die sich über das Verbot hinwegsetzen,“ etwas trotzig fügte er hinzu, „wir können uns ja nicht nur um die Insel kümmern, haben auch sonst genug Arbeit.“
Britta lächelte, „schon gut Herr Jensen, das weiß ich doch, sollte kein Vorwurf sein,“ beschwichtigte sie den Kollegen, „waren sie denn nach dem anonymen Anruf auf der Insel und haben nach dem Rechten gesehen?“
„Ja, waren wir, mein Kollege Peter Braumann und ich. Konnten aber keinerlei Spuren entdecken, alles war rundrum vollkommen zugeschneit und verweht. Wir haben nichts gefunden, noch nicht mal einen Anhaltspunkt. Natürlich könnte der Schuss auch im Bahrenhooper Wald gefallen sein. Dort etwas zu finden entspräche der berühmten Stecknadel im Heuhaufen, denn auch im Wald wären bei dem Wetter heute die Spuren längst verweht. Also, komplett Fehlanzeige.“
Das sah Britta ein, sie kannte Bahrenhoop und die Umgebung von Sonntagsausflügen mit ihrer Familie. Eine traumhafte Gegend, ideal für Erholungssuchende.
„Danke, Herr Jensen, für die rasche Information und ihren tapferen Outdoor-Einsatz. Mehr ist heute nicht drin, ich komme morgen früh zu ihnen raus nach Golddorf, dann hören wir uns mal um. Sie kennen doch die Bewohner und wissen sicher, wo wir mal unverbindlich nachfragen können. Ach übrigens, ein neuer Kollege wird mich begleiten, der morgen früh seinen ersten Dienst bei uns antritt. Ich kenne ihn auch noch nicht, wir dürfen also gespannt sein. Grüßen sie Ihren Kollegen Braumann und einen schönen Abend.“
Jensen atmete hörbar auf, „alles klar, Frau Ohlsson, ich erwarte sie dann morgen früh auf der Dienststelle. Sie wissen ja, dass entweder Braumann oder ich möglichst auf der Polizeistation bleiben müssen um die Stellung zu halten. Nur wenn's gar nicht anders geht, sind wir zu zweit unterwegs. Wir wünschen Ihnen auch einen schönen Abend.“
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