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Die Frage nach der Reichweite der Ethik hat also mindestens diese beiden Bedeutungen: Ist der Begriff der moralischen Begründung intern zu verstehen, oder gibt es externe Gründe? Ist er normativ zu deuten oder evaluativ? Letztlich geht es also in diesem Kapitel um die Beschaffenheit von philosophischen Begründungen im Bereich der moralischen Vorstellungen, insofern sie in Ethiken artikuliert und gedeutet werden. Und wie schon hervorgehoben wurde, kann diese Frage eigentlich weder in diesem Kapitel, noch in diesem Buch abschließend behandelt werden. (Leist 1995, Schroth 2001.)
Es wurde zuvor jedoch schon betont, dass der Vernunft entstammende moralische Normen in der Geltung als universal und in der Bedeutung als allgemein gedeutet werden können und dass die vernünftige Begründung in der Ethik auch als Universalisierung verstanden wird. (Nakhnikian 1985, Narveson 1985.) Hier kommen erneut Fragen nach der Reichweite der Ethik ins Spiel, die den Bereich räumlicher Metaphern aber sprengen. [[Universalisierung: vier Dimensionen]] Universalisierung lässt sich folgendermaßen als Projekt ethischer Begründung verstehen: Eine Norm – wie das Lügenverbot – [< 36] gilt universal, wenn sie (1) für alle, (2) immer, (3) überall und (4) notwendig gilt.
[[(1-3) räumliche, zeitliche, distributive Universalisierung]] Es deuten sich hier bezüglich (1) bis (3) räumliche und zeitliche Metaphern an und man könnte sich fragen, ob (1) und (3) nicht das gleiche sind. „Alle“ sind diejenigen, die letztlich „überall“ leben. Wenn jedoch die räumliche Ausdehnung der Geltung einer Norm über Kulturgrenzen hinweg reicht (also: überall), dann ist noch nicht festgelegt, für wen sie gilt (also: alle oder weniger). Man muss beispielsweise klären, ob Normen nur für vernünftige Personen oder auch für andere gelten, etwa Tiere oder Embryonen und Kinder, die in gewissem Sinne nicht, beziehungsweise noch nicht, vernünftig denken können.
Neben der räumlichen und zeitlichen Reichweite der Ethik muss man also eine distributive unterscheiden: Wer und was gehört zur Menge derjenigen Dinge in der Welt, für die beziehungsweise denen gegenüber Normen, Empfehlungen und Werte gelten? Embryonen und Kinder sind „Entitäten“ in der Welt, die normalerweise zu vernünftigen Personen werden. Daher behandelt man sie antizipierend als solche. Es ist aber nicht ausgemacht, ob es nur Menschen gibt, die als Erwachsene vernünftig sind (möglicherweise gibt es im Weltall vernünftige, aber nicht-menschliche Personen). Außerdem darf man nicht außer Acht lassen, dass es auch Tiere und Tierarten bzw. Pflanzen und Pflanzenarten gibt (und vieles mehr). Gehören sie mit in den Bereich des distributiven „für alle“ und „im Bezug auf alles Mögliche“? Die distributive Großzügigkeit mancher Ethiker führt jedoch zur Kontingenz der moralischen Relevanz. Die moralische Reichweite ist vielleicht aber faktisch bedingt. (Es heißt: Frauen und Kinder zuerst ins Rettungsboot. Für Männer, Tiere und Pflanzen heißt das: Zurücktreten! Ob man also faktisch ins Rettungsboot darf, ist an kontingente Bedingungen geknüpft.)
Universalisierbarkeit als räumliche, zeitliche und distributive Inkontingenz wird vervollständigt durch ihren in der [[(4) Verstandesgemäße Universalisierung]] Vernunft liegenden Ursprung als letzter Inkontingenz (4). Inkontingenz bedeutet in diesem Kontext Nicht-Zufälligkeit beziehungsweise Unbedingtheit. Kategorische Normen – im Sinne eines Kantischen Lügenverbotes – sind in ihrer Geltung nicht an empirische oder sonstige Bedingungen (Kontingenzen) geknüpft, da ihr Ursprung in der Vernunft liegt: Man muss dem Terroristen die Wahrheit sagen. (Punkt!) Überlegungen, ob dieser oder jener Aspekt der Situation eine Ausnahme rechtfertigen, sind notwendig irrelevant. Wer sie dennoch für relevant hält, hat die Ethik nicht verstanden, weil er seine evaluativen „Befindlichkeiten“ für moralisch (normativ) relevant erachtet. Moralische Geltung konkurriert aber – so die These mancher Ethiker – nicht mit relevanten Gegengeltungen.[< 37]
Für die Frage nach der Reichweite der Ethik ist eine kategorische Geltung deshalb wichtig, weil moralische Antworten durch sie durchschlagend werden (immer, überall und gegenüber jedem). So ist die bundesdeutsche Rechtsprechung der Auffassung, dass unser moralisches Verständnis der Menschenrechte es ausschließt, dass wir in einer Situation des 11. September 2001 das Flugzeug mit den [[Auch Terroristen sind Menschen]] Terroristen und den entführten unschuldigen Geiseln von Staats wegen abschießen, um Menschenleben zu retten. Menschenrechte gelten kategorisch, sie sind durchschlagend, weil man ihre Geltung als unausweichlich erlebt, sofern man sie richtig versteht.
Will man eine Ethik formulieren, muss man deutlich machen, ob es in einer der vier genannten Bedeutungen – räumlich, zeitlich, distributiv und vernünftig – inkontingente Geltung gibt. Eine Theorie der Begründung muss daher auch in diesem Sinne über ihre eigene Reichweite Auskunft geben. Der moralische Wert des [[Pluralismus vs. Inkontingenz]] Pluralismus, auf den man heute im politischen Kontext abhebt, stellt jede Inkontingenz moralischer Geltungsansprüche grundsätzlich in Frage. In der philosophischen Ethik hat sich diese Auffassung bisher weniger durchgesetzt als in der Rechts- und politischen Philosophie. Pluralismus in Normfragen hängt aber letztlich von der Pluralität in der Praxis des Wertens- und Bewertens ab, sofern man in der Ethik der evaluativen Strategie konsequent folgt.
2.4Reichweite der Ethik: eine skeptische Sicht
Die Frage nach der Reichweite in der Ethik ist vieldeutig und nicht alle ihre Bedeutungen zielen auf die räumliche und zeitliche Dimension einer Theorie der Begründung moralischer Normen und Werte. Es gibt jedoch noch eine weitere bedeutende Dimension der Reichweite der Ethik, die eher auf tugendethische Fragestellungen verweist. Dies ist die Frage nach der persönlichen Reichweite ethischen Handelns.
Im Verlaufe dieses Buches und vieler anderer kann man sein Wissen über ethische Fragestellungen und Theorien der Begründungen von Antworten vertiefen. Insofern es sich um eine philosophische Fachdisziplin handelt, muss man einen solchen Lernprozess vom „wirklichen Leben“ unterscheiden. Dann, wenn man Fragen praktischer Orientierung hat, die ernsthaft sind, stellen sich zwei [[Persönliche Reichweite in der Ethik]] persönliche Fragen.
Zum einen muss man sich fragen, wie allgemein das Problem praktischer Orientierung ist, über das man nachdenkt. [[(1) Allgemeinheit: verbindliche vs. verständliche]] Man stelle sich vor, man sei schwanger und ein Schwangerschaftsabbruch erscheine aus persönlichen Gründen nötig, auch wenn es andere persönliche Gründe gibt, die dagegen sprächen. (Man möchte eigentlich Kinder haben, aber aus einigermaßen nachvollziehbaren Gründen nicht zu diesem [< 38] Zeitpunkt.) Was soll man tun? Nun, an dieser Stelle geht es gerade nicht um die Antwort im primären Sinne, sondern darum was die Ethik macht, wenn sie uns über Norm- und Wertfragen und über moralische Begründung belehrt. Geht es darum, eine allgemeinverbindliche Antwort zu finden? Oder geht es um eine persönliche Antwort, die insofern allgemein ist, als die Gründe, mit denen man sich rechtfertigen könnte, für andere verständlich sind?
Die meisten – Philosophen und Nicht-Philosophen – meinen, dass es um allgemeinverbindliche Antworten (alle bindende Normen) geht. Vielleicht sind zumindest einige Fragen der praktischen Orientierung aber persönlicher und es geht nur um allgemein-verständliche Antworten? Denn, selbst wenn man Abtreibung persönlich missbilligt, kann man doch die Gründe anderer, die sie für sich billigen, bisweilen und bis zu einem gewissen Grade nachvollziehen. Dass man in der Ethik viel zu leichtfertig dazu neigt, moralische Fragen unpersönlich zu stellen, merkt man am [[Wertewandel]] Wertewandel: Viele früher hoch gehängte (normativ universale) Fragen der Sexualmoral, werden heute zwar immer noch (evaluativ) als moralische Fragen angesehen, aber nicht mehr als solche, in die man anderen über Ratschläge hinaus (normativ) hineinregieren dürfe.
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