Dupont schluckte schwer, leerte sein Pils und bestellte sich ein neues.
„Einer der getöteten Beamten war mein Vater.“
Er nahm noch einmal einen großen Schluck von seinem Bier, schob dem Barkellner das halbleere Glas hin und bestellte sich einen doppelten Cognac. Französischen und nicht zu jung. Ich bemerkte, wie er ein Stück zusammengefallen war, was ihn noch kleiner und unscheinbarer machte.
„Ich war damals gerade 25 geworden, meine Mutter war dem Himmel näher als dem Bett indem sie sich vor Schmerzen krümmte und ich hatte meinen Vater und meine beiden Freunde verloren. Ich schwor bittere Rache. Als meine Mutter 2 Monate später meinem Vater folgte“ – er nahm einen tiefen Schluck aus seinem Cognacschwenker – „sprach ich bei der Gestapo vor. Deutschland hatte einen weiteren Schritt zum sogenannten „Franke-Plan“, einer „Europäischen Friedensordnung“ getan. Frankreich wurde, so wie anderen Ländern auch, ein Beibehalt des Eigendaseins zugestanden, mit einer eigenen politischen Organisation und einer europäischen Schiedsgerichtsbarkeit. Man hoffte, so der Resistance den Boden unter den Füßen wegzuziehen. Frankreich bekam ein Marionettenparlament und wurde fortan als „Teil des Germanischen Reiches und der Europäischen Eidgenossenschaft“ bezeichnet.“
„Ich erinnere mich. Das war Ende der 70er.“, meinte ich.
„Ja, richtig. Auf jeden Fall gab es genug Potential für eine weiterhin aktive Resistance, die ja nicht einfach aufhören konnte. Ich versah weiter meinen Dienst an der Grenze und lies die Transporte passieren. Dann arrangierte man meinen Steckbrief und ich tauchte mit Hilfe der Resistance unter. In den folgenden Jahren diente ich mich in der Organisation ganz nach oben. Dann bin ich verbrannt und wurde nach Germania abberufen.“
Er trank sein Glas leer und bestellte noch einen. Ich schaute ihn gespannt und erwartungsvoll an.
„Das war’s“, sagte er unerwartet und lächelte.
Ich wusste nicht so recht, was ich davon halten sollte. Spitzel aus Rache? Hatte er je seine Rachegefühle befriedigen können? Wir vertieften uns in ein Gespräch über französische Lebensart, französischen Cognac, französischen Käse. Dabei schweifte mein Blick unauffällig über die Mannschaft. Schöttle hatte aufgehört zu spielen. Stattdessen amüsierte er die anderen mit lockeren Sprüchen. Nur die graue Maus, Frau Maas, saß etwas abseits und rührte mit versteifter Miene in ihrem Teeglas. Ich stand auf. „Herrschaften, ich wünsche noch einen vergnüglichen Abend. Wir sehen uns beim Frühstück.“
Damit verließ ich die Bar und begab mich in mein Zimmer. Ich schlief wie ein Toter und die befürchteten Alpträume blieben aus.
Als ich am nächsten Morgen zum Frühstück kam, fand ich niemanden von meinem Stab. Ich fragte an der Rezeption nach und erfuhr, dass die Herrschaften bereits abgereist waren. So gönnte ich mir ein reichhaltiges Frühstück und beschloss, Herrn von Carlstatt einen Besuch abzustatten. Mein Flugzeug ging um 19.40 Uhr. So hatte ich den ganzen Tag Zeit. Ich fand Wieland, meinen Fahrer, beim Frühstück in dem kleinen Fahrercasino beim Hotelparkplatz. Er beeilte sich und ich dirigierte ihn zum Sportministerium. Dort angekommen steuerte ich gleich den Empfangstresen an.
„Guten Tag, Standartenführer Klar. Bitte melden Sie mich bei Herrn Ministerialdirektor von Carlstatt.“
Der ältliche Herr mit schlechtsitzender blauer Uniform und wirrem Haarschopf musterte mich kurz und gab dann einige Daten in den Rechner ein.
„Wie schreibt sich Carlstatt? Mit K oder C, mit Doppel-t oder dt?“
Ich buchstabierte ihm den Namen.
„Tut mir leid, hier gibt es niemanden mit diesem Namen.“
„Dann melden Sie mich bitte bei Brigadeführer Aldinger von der Gestapo.“
„Tut mir leid, dann müssen Sie zum Reichssicherheitshauptamt. Wir haben hier keinen Zugang zu den Datenbanken des RSHA.“ Und mit versteinerter Miene fügte er hinzu: „Und schon für die Telefonnummer brauchen Sie eine Sondervollmacht.“
Ich zückte meine Vollmacht und hielt sie ihm vor die Nase. Er erstarrte vor Ehrfurcht.
„Ich benötige Ihren Dienstausweis, Standartenführer.“
Ich schob ihn über den Tresen. Er gab umständlich einige Daten ein und schrieb eine Telefonnummer auf ein Blatt Papier.
Ich schaute mir die Telefonnummer an. „Wo zum Teufel ist das?“, fragte ich ihn.
„Zagreb“, sagte er kurz.
„Gut. Gibt es andere Datenbanken, auf die Normalsterbliche keinen Zugriff haben?“
Jawohl, die Datenbank vom Führungsstab, vom Führerhauptquartier, von der Wehrmacht, der SS…“
„Versuchen Sie’s beim Führungsstab. Von Carlstatt.“
Er schaute mich an, als wolle ich ihn gleich verhaften und tippte fleißig schier endlose Daten ein.
„Von Carlstatt. Der Herr ist Ministerialdirektor im Ministerium des Innern und Herrn Minister Kleins persönlicher Adjutant.“
Wie bitte? Dieses keuchende, schwitzende Walross ist Adjutant des Reichsinnenministers. Ich war völlig baff. Nun gut.
„Soll ich versuchen eine Verbindung zu erhalten?“
„Ich wäre Ihnen sehr verbunden“, raunzte ich leicht genervt.
Er telefonierte. „Tut mir leid, Standartenführer, Ministerialdirektor von Carlstatt ist gestern Abend nach München zu einer Konferenz abgereist.“
Es hatte keinen Sinn, den armen Mann noch länger in Anspruch zu nehmen. Ich bedankte mich und fand meinen Fahrer im Fahrercasino, wo er gerade versuchte, seinen entgangenen Kaffee nachzuholen. Ohne mit der Wimper zu zucken stellte er seinen Kaffee ab, setzte seine Mütze auf und ging mit mir zum Wagen. Ich ließ ihn zum Innenministerium fahren. Ein weiterer monumentaler Bau mit einer weiteren riesigen Eingangshalle und einem weiteren Empfangstresen. Sieht irgendwie alles gleich aus hier, dachte ich bei mir. Diesmal wedelte ich gleich am Tresen mit meinem Dienstausweis und meiner Vollmacht.
„Zu Ministerialdirektor von Carlstatt.“
Ich staunte über mich selbst. Das hörte sich schon richtig nach Gestapo an.
„Einen Moment, Standartenführer“, flötete die junge Frau in der blauen Uniform. Sie telefonierte kurz.
„Tut mir leid, der Herr Ministerialdirektor befindet sich derzeit nicht im Haus.“
„Das weiß ich“, polterte ich. „Ich möchte mit jemandem von seinem Büro sprechen.“
„Moment bitte.“ Ihr Ausdruck war steif und unbewegt. Sie telefonierte kurz.
„Nehmen Sie bitte Platz, Standartenführer.“
Ich setzte mich in eine der schweren Ledergarnituren und zündete mir eine Zigarette an. Nach einigen Minuten wurde ich angesprochen.
„Standartenführer Klar?“
Eine gutaussehende Dame stand vor mir, um die 30, in einem grauen Nadelstreifenkostüm. Ihre Figur war perfekt, der blonde Pagenschnitt streng mit Pomade an den Kopf gekämmt. Mit ihrer Erscheinung erinnerte sie mich arg an Evi. Ich stand auf und schüttelte die dargereichte Hand.
„Mein Name ist Bettina Wagner. Ich bin die Sekretärin von Ministerialdirektor von Carlstatt. Was kann ich für Sie tun?“
Sie klang freundlich. Ich bedeutete ihr Platz zu nehmen.
„Eigentlich hatte ich gehofft, Herrn Ministerialdirektor persönlich hier anzutreffen. Ich hätte da einige Fragen an ihn.“
„Herr von Carlstatt ist außer Haus.“
„Schade“, sagte ich. „Wann kann ich ihn wieder erreichen?“
„Ich denke, er ist übermorgen wieder zurück.“
„Tja, da kann ich jetzt auch nichts machen. Ich danke Ihnen jedenfalls, dass Sie sich herbemüht haben.“
Ich lächelte sie freundlich an und verabschiedete mich mit einem Händeschütteln. Mit Absicht hatte ich vermieden, näher auf das Thema einzugehen. Mein Polizeiinstinkt hatte einige Warnleuchten angehen lassen. Ich ließ sie einigermaßen verdutzt zurück.
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