Johannes setzte vorsichtig den Tonarm auf. Veit schnitt ein dickes Stück vom Käse ab und würfelte ihn. Die jungen Männer hatten um den runden Tisch Platz genommen, jeder eine Flasche eiskaltes Bier vor sich. Gebannt lauschten sie den Klängen von „Piano Man“, „Pleasure“, „The longest time“. Gerhard Bauer zog ein Taschentuch aus seiner Jacke und schnäuzte laut. Dabei wischte er sich heimlich ein paar Tränen von der Wange. Ohne diese beiden Scheiben hatten sie schon zwölf Schallplatten. Acht davon von Elvis Presley und je eine von einem schwarzen Sänger namens B.B.King und einem namens Hank Williams. Eine Platte von einem religiös inspirierten Sänger namens Pat Boone und eine von einer Gruppe mit dem seltsamen Namen Creedence Clearwater Revival. Alle, besonders die Melodien von Elvis Presley hatten sie oft tief ergriffen. Es war stets wie eine Botschaft aus einer anderen Welt. Aber keiner hatte es bisher geschafft, den Jungs die Tränen in die Augen zu treiben. Der schwergewichtige Hans Kästner kaute und bemerkte mit vollem Mund:
„Mensch Veit, du hast einfach einen exzellenten Geschmack.“
„Tja, kannste mal sehen, Hungerlappen.“, gab er lachend zurück.
„Jedes Mal, wenn ich in Zürich bin, gehe ich in den Plattenladen und höre mir ein paar Scheiben an. Ihr würdet es nicht glauben, was es da alles gibt. Da gibt es Schwarze, die machen Musik, da zuckts dir in den Beinen. Da gibt es Kapellen, da färben sich die Jungs die Haare in allen Regenbogenfarben, sind tätowiert von oben bis unten und tragen verrückte Klamotten. Ist schon eine verrückte Welt, da drüben in Amerika.“
Ihn trafen ungläubige und gleichzeitig faszinierte Blicke.
„Erzähl uns mehr!“ Hans Kästner hatte aufgehört sich vollzustopfen und war völlig aufgeregt.
Veit erzählte weiter. Von sägenden und klirrenden Gitarren, von herrlichen Gospelgesängen, von amerikanischer Volksmusik, die die große Freiheit besingt…. Die Platte war längst zu Ende und die jungen Männer lauschten mit weit aufgerissenen Augen und Mündern wie Kinder dem Märchenonkel Veit.
„Was aufgeschnitten ist, kommt mir aber noch weg!“, meinte er plötzlich und zeigte in die Mitte des Tisches.
„Kein Problem“, grunzte Hans Kästner vergnüglich.
Dann stand Veit auf, packte die beiden Käsehälften und verließ den Keller. Johannes drehte die Platte um und das soeben eingesetzte Stimmengewirr verstummte wieder.
Evelyn hatte darauf bestanden, dass ich meinen besten Anzug anziehe. Außer, dass dieser in dem engen Sitz des Flugzeugs einige Knitterfalten abbekam, verlief der Flug völlig ereignislos. Ich erkundigte mich bei der Touristeninformation nach der Fahrtdauer zum Regierungsviertel. Gerd hatte recht knapp gebucht und so nahm ich mir, zerknittert wie ich war, gleich ein Taxi. Kaum hatten wir das Flughafengelände verlassen, steckten wir auch schon fest. In endlosen Kolonnen quälte sich der Verkehr stadteinwärts. Mein Chauffeur versicherte mir aber in breitestem Berlinerisch, dass wir pünktlich sein werden. Ich vergrub mich hinter der „Germania Aktuell“, die es im Flieger gratis gab. „Erneut schwere Anschläge in Palästina“ prangte die Schlagzeile in fetten Lettern auf Seite 1. Ich musste an Nikolaus denken, der jetzt irgendwo im Mittelmeer grollend und schmollend Deck schrubbte. Nur die Schlagzeilen lesend blätterte ich von vorne nach hinten. „Neuinszenierung der Zauberflöte erregt die Gemüter“. „Dortmund schlägt die Bären 2:0“. „Ausverkauf bei Elektro Stanglmayer“.
Das Taxi verschwand in einem Erdloch. Acht breite Spuren verteilten die Fahrzeuge auf acht beschrankte Abfertigungshäuschen. Der Fahrer hielt an der Schranke und kurbelte das Fenster herunter. Ein Wachmann in blauer Uniform trat an das Fenster, ein zweiter stand mit angelegter Maschinenpistole hinter dem Wagen. Grußlos schaute sich der Wachmann im Fahrzeug um. Die Schranke öffnete sich und mit einer herrischen Bewegung seines Kinns in Fahrtrichtung gab er Kommando zum Weiterfahren. Noch etwa zwei Kilometer ging es durch ein unterirdisches Labyrinth. Das Taxi steuerte eine Bucht an. Über einer breiten und hohen, beleuchteten Glasfassade prangten große Lettern: „Tor 028“.
„So Chef, da wären wir. Macht zweiundzwanzig fuffzig.“
Ich schob 25 Mark durch die Lade in der Trennscheibe und verlangte eine Quittung. Dann sah ich dem Mercedes nach, wie er im Tunnel verschwand. 8.35 Uhr. Mehr als pünktlich. Die Glastür öffnete sich automatisch. Ich stand in einem kleinen Vorraum mit einem Schalter wie in einer Bank. Hinter dem Panzerglas saß eine junge Frau in blauer Uniform.
„Passierschein oder Befehl!“, raunzte sie in ein Mikrofon hinter der Scheibe. Ich schob den Befehl durch die Lade. Sie studierte ihn aufmerksam. „Ausweis oder Dienstausweis.“ Ich schob auch diesen durch. Ein Summen erklang und eine Stahltür öffnete sich, die bisher unsichtbar in die Wand integriert war. Zwei bewaffnete SS-Männer erschienen. „Folgen“, war die kurze aber deutliche Aufforderung. Einer der Männer nahm mir meine Reisetasche ab, der andere hatte meine Papiere in der Hand. Es war ein kahler, fensterloser Raum. Die Tasche verschwand unter einem Röntgengerät. Ich wurde abgetastet, musste meine Taschen leeren und durch einen Metalldetektor gehen, während meine Passdaten in einen Elektronenrechner eingegeben wurden. Nach 2 Minuten erhielt ich einen Besucherausweis, mit dem Hinweis, diesen gut sichtbar an der Jacke anzuklipsen. Dazu erhielt ich einen Passierschein, abzuzeichnen von der zu besuchenden Dienststelle.
„Alles verstanden?“, fragte der SS-Mann gelangweilt.
Seinen Dienst in der SS hatte er sich wahrscheinlich auch anders vorgestellt. Ich verkniff mir ein: „Ich bin doch nicht blöd“ und beschränkte mich auf ein knappes „Jawoll“. Ich klippte den Ausweis an. Eine weitere Stahltür öffnete sich. Dahinter befand sich ein Aufzug. Der SS-Mann bedeutete mir einzusteigen und den einzigen Knopf zu drücken.
„Wo ist mein Befehl?“, fragte ich nach.
„Den brauchen Sie jetzt nicht mehr“, war die knappe Antwort.
Dann befand ich mich auf dem Weg nach oben. Vor der Aufzugtür erwartete mich ein junger Mann in der Uniform eines Unterscharführers.
„Hauptkommissar Klar?“
Er hatte kein unfreundliches Erscheinungsbild, wenn auch seine Körpergröße von gut zwei Metern und sein kantiges Gesicht Respekt einflößten.
„Mein Name ist Wieland. Ich bin Ihnen für die Dauer Ihres Aufenthaltes als persönlicher Fahrer zugeteilt. Es ist üblich, mich beim Vornamen anzusprechen. Ohne Dienstgrad.“
Er nahm meine Tasche und wir verließen die bahnhofsähnliche Halle. Er steuerte eine vor der Tür parkende schwarze Mercedes-Limousine an, verstaute meine Reisetasche im Kofferraum und hielt mir die Beifahrertür auf.
„Sie können gerne auch hinten Platz nehmen. Nur – wenn Sie vorne sitzen, kann ich mich besser mit Ihnen unterhalten. Sind Sie das erste Mal in Germania?“ Ich bejahte und nahm auf dem Beifahrersitz Platz.
„Schätze, dann werden Sie einige Fragen haben.“ Er grinste wissend.
„Als erstes fahren wir jetzt zu Ihrer Verabredung. Sie werden dort schon erwartet. Ihren Passierschein können sie, wenn sie möchten, gerne mir anvertrauen. Ich sorge dafür, dass Sie alle Stempel bekommen und dass das Dokument nicht verloren geht.“
Ich nickte stumm. Ich hatte Bilder und Filme von Germania gesehen, auch vom „neuen“ Regierungsviertel. Das, was ich jetzt vor mir sah, überstieg jedoch völlig meine Vorstellungskraft. Wieland schien das zu merken. Wahrscheinlich ging es den meisten seiner Fahrgäste so. Er steuerte den Wagen aus der Haltebucht hinaus auf die Straße.
„Wir werden vielleicht noch Gelegenheit haben, eine Rundfahrt zu machen. Wenn Sie möchten, erkläre ich Ihnen dann alles Wissenswerte über das Viertel, die Bauwerke und was immer Sie interessiert.“
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