Über seiner Rede war die alte Wut über das Reich und sein Fußvolk wieder hereingebrochen. Er nahm tief Luft, trank einen Schluck und rauchte schweigend weiter. Dann ergoss er sich in Schwärmereien über die Schönheit der Schweizer Berge, die Qualität seines Käses und die Freundlichkeit der Schweizer. Es war Mitternacht, als er hinter Johannes die Tür schloss. Er würde am Sonntag die Messe besuchen, nahm er sich vor. Nicht etwa um zu beten. Nur um dem Orgelspiel von Johannes zu lauschen, dass ihn so oft dieser Welt hatte entrücken lassen.
Ich begab mich zur Dienststelle. Das fertige Versetzungsgesuch steckte in meiner Aktenmappe. An der Außenpforte klopfte ich an die Scheibe und steckte meinen Kopf durch das offene Schiebefenster.
„Guten Morgen, Marga. Bitte sind Sie doch so freundlich und fragen bei Dr. Jauch nach, ob er etwas Zeit für mich hat.“
„Guten Morgen, Herr Hauptkommissar. Wir freuen uns sehr…“
Sie brach ab.
„Kleinen Moment.“
Sie verschwand hinter einer Wand aus Sicherheitsglas und hob den Hörer ab. Der junge uniformierte Beamte, der soeben hereinkam und den Schalterplatz besetzte, grinste dämlich.
„Is was?“, fauchte ich ihn mürrisch an.
Er machte eine Bewegung seines Kopfes in Richtung meines Turbans.
„Trägt man det nu?“
Er platzte schier ob seines Witzes. Ich schaute nur verächtlich und er widmete sich wieder seinen Besucherpässen. Marga legte auf, kam zurück und lächelte.
„Der Chef lässt bitten“, ließ sie wissen. „Und“ – Marga verfiel in Flüsterlautstärke – „er meinte: Was will denn der schon hier, ich denke der ringt mit dem Tod…“
Typisch. Genau so oder ähnlich hatte ich es mir vorgestellt. Ich grinste, wünschte Marga einen Guten Morgen und machte mich auf den Weg in die oberste Etage. Im Vorzimmer angekommen, hörte ich ihn schon rufen:
„Komm rein, Manfred und mach die Tür zu!“
Frau Elsbeth, die gestrenge Vorzimmerdame (ich stellte mir jedes Mal vor, wie sie abends in Strapsen und Leder ihren Gatten züchtigte…), ignorierte ich geflissentlich. Ich überlegte es mir aber anders, drehte in der Tür um und lächelte sie freundlich an.
„Ach, guten Morgen Frau Hofer. Bitte sind Sie doch so lieb und bringen uns ein Tässchen von Ihrem vorzüglichen Kaffee. Schwarz für mich, ohne Zucker. Vielen Dank.“
Das Gift, das ihr Blick versprühte hätte gereicht, eine ganze Garnison zur Strecke zu bringen. Ich schloss die Tür hinter mir.
„Guten Morgen, Gerd“, grinste ich in den Raum.
„Du bist doch…. Ach vergiss es! Was machst du überhaupt schon hier?! Setz dich erst mal hin. Zigarette?“
Er schob mir eine offene Packung Eckstein hin. Ich griff zu und erzählte, wie ich den Weißkitteln entkam. Dann fragte ich ihn, was eigentlich passiert war. Ich hatte keine Ahnung. Die Tür ging auf.
„Jetzt trinken wir erst einmal eine gute Tasse Kaffee.“
Das war ein wunderbarer Gedanke, denn ich brauchte noch etwas Mut, bevor ich den Inhalt meiner Tasche auspacken konnte. Dr. Gerhard Jauch, Leiter der Kriminaldirektion Stuttgart, Herr über mehr als 600 Beamte, würde nicht sonderlich erbaut über mein Ersuchen sein.
„Weißt du, wo meine Zimmerflak abgeblieben ist?“
„Die hat die Spurensicherung beim Waffenmeister in der Kammer abgegeben. Kannst du dir bei Dienstantritt wieder abholen. Apropos, wie lange hat der Dok dich krankgeschrieben?“
„Ach ja“, sagte ich und wühlte in der Aktentasche, „wärst du so nett und würdest den Schein an das Personalamt schicken?“
„Mach ich“, sagte er.
„So, und nun lass mal hören, was da eigentlich passiert ist“, bat ich ihn.
„Gut“, meinte er. „Also, die Tote ist eine Nexi, die bei uns zwei Mal…“
„Wie bitte, eine Frau?“, unterbrach ich ihn.
„Ach, das hast du gar nicht mehr mitgekriegt. Na denn. Das Zielobjekt war nicht mehr vor Ort, als ihr eingetroffen seid. Der Vogel war ausgeflogen, vielleicht Frühstückbrötchen holen.“
Er grinste hämisch.
„Jedenfalls war da eine junge Dame, die wohl seine Geliebte oder Lebenspartnerin war. Bei der Obduktion wurde Sperma mit der DNA unseres Freundes gefunden. Wir haben das Konterfei, oder besser das, was die Hecklers vom MEK noch davon übriggelassen haben und die DNA durch unsere Datenbank gejagt. Zwei Funde. Einmal Nicole sowieso, gebürtig in Tunis, einmal Maria sowieso, gebürtig in Bukarest. Beide starben im Säuglingsalter. Die Frau, deren derzeitigen Decknamen wir nicht kennen, wird von der Präfektur Marseille wegen Beteiligung an einem Raubüberfall gesucht. Die Dreckschweine haben es fertiggebracht, auf einer Serpentinenstrecke Laster mit Dynamit von der Straße zu fegen, den Abhang runter kullern zu lassen und dann auszuräumen. Zumindest konnten wir nach Marseille eine Erfolgsmeldung durchgeben. Das Kellerloch in der Konstanzer Straße wird seitdem rund um die Uhr observiert. Denke aber, das wird nichts bringen. Unser Vogel hat längst das Nest verlassen. Die Durchsuchung hat nichts gebracht. Ein paar persönliche Utensilien, ein paar Tageszeitungen, keine Ausschnitte, keine Vermerke, nichts. Und das war’s schon.“
„Was ist mit der Waffe?“, fragte ich ihn.
„Gibt nicht viel her. Alte Beretta null acht fuffzehn, wahrscheinlich ehemalige italienische Armeewaffe, keine Nummer.“
„Wer hat den Fall jetzt?“
„Dieter Reisser.“
„Wunderbar. Der kriegt das hin.“
„Denk ich auch.“
„Vielleicht ist der Fall ja schon ad acta, wenn du in 2 Wochen wiederkommst. Jetzt mach dir mal ein paar vergnügliche Tage und schau, dass du diesen albernen Turban wieder los wirst.“
Er grinste. Fast hätte ich mein Schreiben in der Tasche gelassen. Nein, das musste jetzt sein. Ich hatte es Evelyn versprochen. Der Ehekrach wäre vorprogrammiert.
„Noch’n Kaffee?“, lächelte Gerd über seinen Schreibtisch.
„Nö, lass die Frau Elsbeth mal auf ihrem Popo sitzen.“
Gerd schaute mich ernst an: „Irgendwas brennt dir noch unter den Nägeln. Raus damit!“
Ich zog den Brief aus der Tasche und schob ihn langsam über die Tischplatte. Er öffnete ihn, überflog ihn kurz und legte ihn zur Seite, regungslos. Lächelnd meinte er: „Über das Thema wollte ich sowieso mit dir reden. In unserem Alter sollte man die Straße den jungen Hüpfern überlassen.“
Ich hatte das Gefühl, dass hier Evelyn ihre Finger im Spiel hatte.
Wir rauchten noch eine, tauschten ein paar Gedanken aus und verabschiedeten uns.
Die Wunde heilte gut und die Schmerzen ließen langsam nach. Auf der kahlrasierten Stelle wuchsen schon wieder ansehnliche Stoppeln. Nach dem Fäden ziehen, würde ich zum Friseur gehen und den restlichen Schopf anpassen lassen.
Unser Sohn Nikolaus hatte für zwei Tage Landurlaub bekommen und Thea, unsere Tochter, nutzte die Gelegenheit, zu einem Familientreffen dazu zu stoßen. Thea studierte Französisch und Italienisch im 1. Semester in Brüssel. Sie habe oft Heimweh, beichtete sie. Aber sie hatte viele neue Freunde gefunden und ihren Erzählungen nach zu urteilen, musste das Studium mehr Fest als Arbeit sein. Nun ja, sie machte mir keine Sorgen. Mein Sorgenkind war Nikolaus. Ich erinnere mich, wie er dem Abitur entgegenfieberte. Endlich raus aus dem RAD und rein in den Wehrdienst. Was er nicht wusste, war, dass ich frühzeitig dafür gesorgt hatte, dass er unter die Fittiche von Onkel Jens Achenbusch kam. Onkel Jens war der jüngste Stiefbruder meines Vaters, Admiral der Kriegsmarine und Befehlshaber der Mittelmeerflotte. Die Marine war schon lange nicht mehr in irgendwelche Scharmützel einbezogen gewesen. Ihre Aufgabe lag eher in der Prävention und der Beförderung von Truppen und Nachschub. Ich war der Meinung, mein Sohn wäre hier besser aufgehoben als in der Infanterie, die zum Los vieler junger Männer wurde. Die Seestreitkräfte des Reichs, Italiens und Japans stellten derzeit etwa 70 % der gesamten Hoheit zur See dar. Das war für einen jungen Wehrpflichtigen fast eine Lebensversicherung. Niko aber wurde nicht müde, sich bei mir über seinen Dienst zu beklagen. Langeweile, Putz- und Wartungsarbeiten, lange nutzlose Deckwachen. Ab und zu mal eine Übung. Das war’s. Die Marine sei ein fauler und verlodderter Sauhaufen, schimpfte er. Sein größter Wunsch sei es, wenn man den Blödsinn, den er so von sich gab richtig interpretierte, sich für Volk, Führer und Vaterland in möglichst kleine Stücke hacken zu lassen und als ruhmreiches und heldenhaftes Fischfutter zu enden. Den gleichen Bockmist hatte man uns seinerzeit in der Schule eingetrichtert. Nur, dass ich meinen Vater als lebendes Beispiel der Zerhackkunst vor Augen hatte – für Volk, Führer und Vaterland hatte er das linke Auge und den rechten Arm verloren, eine riesige Hautfläche war von Brandbomben bis zum 3. Grad verbrannt, sein gesamter Organismus aus dem Lot. Als ich 10 Jahre alt war, starb er den Freitod. So entschloss ich mich, dem Vaterland lieber im Inneren zu dienen und meldete mich zum Polizeidienst.
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