Ich bestellte mir ein Glas Bordeaux, der vorzüglich schmeckte. Es war eine schweigende Runde und außer einem „Guten Appetit“ war nichts zu vernehmen. Die Tische um uns herum waren ebenfalls gut besetzt und so war es besser, schweigsam zu bleiben. Trotzdem stand ich nach dem Essen auf.
„Kollegen“, begann ich, „Ihnen allen geht es sicherlich wie mir. Müde von der Reise und voller Gedanken über den Weg, der vor uns liegt. Vielleicht tun Sie es mir gleich und nutzen den Nachmittag für etwas Ruhe und Entspannung. Ich werde die Rezeption bitten, für 19.00 Uhr einen Tisch fürs Abendbrot zu reservieren.“
Ich hob mein Glas.
„Erst einmal möchte ich mit Ihnen allen auf eine gute und erfolgreiche Zusammenarbeit trinken. Zum Wohl.“
Es kam ein allgemeines Echo. Ich trank mein Glas aus, begab mich zur Rezeption und dann ins Zimmer. Dort hielt ich ein halbstündiges Nickerchen. Danach suchte ich den Garten auf, die Dienstanweisung in der Hand. Ich fand eine schattige Bank in einem abgeschiedenen Eck, zündete mir eine Zigarette an und blätterte in dem mitgebrachten Buch. Im Grunde stand nicht viel darin, was ich nicht schon wusste, aus dem Gesagten geschlossen oder vermutet hatte. Trotzdem brachte die Lektüre eine grobe Ordnung in meine Gedanken und das tat gut. Ich genoss die erstaunlich gute Luft und die mich umgebende Ruhe. Von den anderen war nichts zu sehen. Ich vermutete, Sie nutzten die vielen Freizeitmöglichkeiten, für die in der Hotelhalle mit großen Fotos geworben wurde, wie den Bäderbereich, den Sportbereich oder das Spieleparadies mit Billardtischen und mehr. Ich ging zurück zur Hotelbar, bestellte mir ein Kännchen englischen schwarzen Tee mit einem Stück Guglhupf, nahm es mit nach draußen und ließ es mir in einem Pavillon schmecken. Nebenher begann ich, mir Notizen zu machen. Einmal geschrieben, prägte es sich ein. Kein Mensch hätte dieses Gekrakel hinterher entziffern können. Der Gedanke daran amüsierte mich.
Die Zeit eilte voran und es war kurz nach 18.30 Uhr geworden. Ich ging auf mein Zimmer, wechselte das Hemd, machte mich frisch und begab mich zum Restaurant. Beinahe jeder Tisch des riesigen Restaurants war belegt. Es gab kalt – warmes Buffet und wir bedienten uns. Es war klar, dass dies der falsche Platz war, über unsere Angelegenheiten zu plaudern und so blieb es still am Tisch. Ich hatte schon in unzähligen Hotels genächtigt und gegessen. In allen Restaurants waren angeregte Gespräche im Gange, da wurde zugeprostet, da wurden die neuesten Vertreterwitze ausgetauscht, da wurde herzhaft gelacht. Hier jedoch herrschte trotz Trubel eine gespenstische Stille. Nur das Klappern und Scharren der Bestecke war zu hören, ab und zu unterbrochen von den sonoren Nachfragen des Bedienungspersonals. Das war mir unheimlich. Dezent winkte ich einen der Ober zu mir.
„Verzeihen Sie. Wir hätten einige vertrauliche Dinge zu besprechen. Gibt es hier einen Raum, in dem wir ungestört sind?“
„Selbstverständlich, mein Herr“, antwortete er mit übertriebener Höflichkeit. „Möchten Sie essen und trinken?“
„Ja, das wäre nicht schlecht.“
„Jetzt gleich?“
Ich schaute in die Runde. Zustimmendes Nicken allerorts.
„Jetzt gleich!“
„Wenn Sie mir dann bitte folgen wollen!“
Er trabte voran und wir folgten ihm im Gänsemarsch. Eine Etage tiefer schloss er uns einen Raum auf, den er uns als Pianobar beschrieb und machte das Licht an. Das passte vortrefflich.
„Ich schicke Ihnen sofort einen Barkellner. Keine Angst, unser Personal ist taub und stumm. Sie können den Raum nutzen, solange Sie möchten. Ich wünsche Ihnen einen erfolgreichen Abend.“
Wir verteilten uns in die edlen Lederpolster. Der Barkellner kam, grüßte höflich und nahm unsere Getränkebestellungen entgegen.
„Können wir auch etwas zum Essen haben?“, fragte ich.
„Wenn Sie mit einer Käseplatte zufrieden sind, kann ich die Ihnen herrichten lassen.“
„Wunderbar“, bestätigte ich.
Sollten die anderen von mir denken, was Sie wollen. Der Bordeaux war so gut, dass ich mir gleich eine Flasche davon bestellt hatte. Die Platte wurde hereingefahren und ich fragte mich allen Ernstes, wer das alles essen sollte.
Schöttle brach das Schweigen: „Ich weiß nicht, wie es euch geht. Ich habe in meinem Leben schon eine Menge Murks durchgebissen“ – wie zur Bestätigung klopfte er mit seiner Prothese ein paarmal auf die Tischplatte – „aber bei der Sache hier, habe ich ein Scheiß Gefühl.“
„Zivilist Schöttle“, sagte ich in ruhigem und ernsthaftem Ton, „erstens sind Sie hier nicht mehr beim Barras und zweitens nicht mehr im Graben an der Front von Irgendwosonstistan. Ich bitte Sie also, Ihre Ausdrucksweise etwas zu mäßigen!“
Im Grunde war mir seine schnoddrige Art nicht unsympathisch. Ich musste jedoch gleich einen Riegel vorschieben, bevor mir die Dinge aus der Hand glitten. Er sprang auf, legte die Hand an die Schläfe und donnerte mit vollem Mund: „Jawoll, Standartenführer.“ Dann ließ er sich rückwärts in den Sessel fallen und schob sich genüsslich einen Käsewürfel hinterher. Der Rest der Mannschaft grinste.
„Herrschaften“, sagte ich, „die vor uns liegende Aufgabe hat niemand mehr Respekt als ich. Und so leid es mir tut, ich muss auf ein Mindestmaß an Disziplin bestehen. Sonst müssen wir am Tag X dem Führer melden: Außer Spesen nix gewesen. Dann kriegen wir hier alle, und ich bediene mich jetzt gerne mal Ihrer Ausdrucksweise, einen fürchterlichen Tritt in den Arsch.“
Alle schwiegen mehr oder weniger betroffen.
Dupont hob die Hand: „Chef, womit fangen wir an?“
„Wir werden als erstes alle Akten und bisherigen Ermittlungsergebnisse einsehen. Dann werden wir einen anständigen Kaffee trinken und uns an die Arbeit machen. Bis dahin wäre es müßig, sich weitere Gedanken über den Fall zu machen. Jetzt lasst uns mal reinhauen und zusammen einen heben. Prosit.“
Der Rest des Abends verlief in lockeren Gesprächen. Ich hatte mich etwas zurückgezogen und süffelte meinen Bordeaux an der Bar. Schöttle hatte sich den Schlüssel für den Flügel organisiert. Beim Hinsetzen machte er eine theatralische Bewegung, als werfe er den Schwalbenschwanz nach hinten. Alles griente. Dann begann er zu spielen, einfache Volkslieder, Seemannslieder und Operettenmelodien, die er auf eigentümliche Weise interpretierte. Es war erstaunlich, was für Melodien er dem Flügel mit 5 Fingern entlockte. Alle, selbst der tiefgefrorene Barkellner, lauschten bewegt seinem Spiel.
„Es ist bemerkenswert. Der Mann hat sein Spiel komplett umstellen müssen, als er seine Hand verlor.“
Ich wandte mich um. Dupont stand zu meiner Linken an der Bar, ein Glas Pils in der Hand.
„Ja“, sagte ich, „der Junge kann was… Sagen Sie, Dupont, woher stammen Sie? Sie sprechen ein absolut akzentfreies Deutsch!“
„Geboren bin ich in Le Perthus, das liegt an der spanischen Grenze. Meine Eltern stammen aber aus Straßburg. Mein Vater war Zollbeamter und wurde an die spanische Grenze versetzt. Wir haben zuhause fast ausschließlich Deutsch gesprochen. Das war meinen Eltern sehr wichtig. Französisch lernte ich dann auf der Straße. Spanisch, Portugiesisch, Italienisch und Englisch in der Schule.“
„Und wie kamen Sie zur Gestapo?“
Dupont stellte sein Glas auf den Tresen und schob sich einen Barhocker zurecht.
„Das ist eine lange Geschichte, Standartenführer.“
„Erzählen Sie!“, ermunterte ich ihn.
„Gut, ich will versuchen mich kurz zu fassen. Mein Vater hatte dafür gesorgt, dass ich nach dem Abitur eine Ausbildung bei der Zollverwaltungsakademie in Metz erhielt, was mir den Dienst in der Wehrmacht um ein Jahr verkürzte. Nachdem ich diese abgeschlossen hatte, wurde ich nach Le Perthus versetzt. So konnten wir, mein Vater und ich, den Dienst so einteilen, dass wir abwechselnd meine schwer kranke Mutter pflegen konnten. Ich war, wie alle meine Freunde aus der Stadt, in der Resistance engagiert. Wir waren stolz darauf, kleine Schmuggeleien über die Grenze durchführen zu können. Das war eigentlich alles. Mein Vater wusste nichts davon. Auch wenn er kein Befürworter des Reichs und des Führers war und es lieber gesehen hätte, wenn Frankreich wieder unabhängig geworden wäre, so hätte er mein Engagement doch niemals gebilligt. Eines Tages sollten wir zwei Kisten Sprengstoff im Hafen von Alicante übernehmen und nach Dijon schaffen. Die Jungs charterten einen Laster, nahmen in Alicante den Sprengstoff auf und luden in Valencia 18 Tonnen Orangen zu. Ich sollte dafür sorgen, dass die Grenzabfertigung reibungslos läuft. Das war schon oft gut gelaufen. An diesem Tag aber hatte die Gestapo einen Tipp bekommen, dass ein Transport mit geflohenen Sträflingen aus dem Arbeitslager „Le Canard“ bei Algier in Richtung der spanischen Grenze unterwegs war. Weil mit einem Durchbruch bei La Junquera gerechnet wurde, hatte die SS zahlreiche Stellungen im Grenzbereich eingerichtet. Als unsere Jungs anrollten, entdeckten sie die Sandsackburgen mit den MGs und gerieten in Panik. Sie versuchten den Laster zu wenden. Daraufhin nahm die SS den Laster unter Beschuss. Meine zwei Freunde waren auf der Stelle tot. Tags darauf hielt am Abfertigungsgebäude ein Kleinlaster. Der Fahrer stieg aus und statt in die Schalterhalle zur Abfertigung zu gehen, sprang er in einen Renault, der soeben von Spanien her die Grenze passiert hatte und raste davon. Unglücklicherweise liefen 4 Grenzbeamte von der Kontrolle herüber und eröffneten das Feuer auf den Wagen. In diesem Moment explodierte der Laster. Die Schweine hatten zusätzlich Nägel und Stanzabfälle aus Blech geladen. Neben den vier Kollegen kamen eine Mutter mit ihrem Säugling, vier Lastwagenfahrer, ein Bauarbeiter und eine vierköpfige dänische Touristenfamilie ums Leben. 48 Menschen wurden zum Teil schwer verletzt.“
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