»Du trägst aktuelle Kurt Geiger Stiefel zu Armani Jeans aus der letzten Saison? Mutig.« Titanias Markenbewusstsein beeindruckte Helen stets aufs Neue. Ebenso beeindruckt war sie von der Tatsache, dass ihre Freundin in fast jeder Situation hochhackige Schuhe tragen konnte. Die Tatsache, dass sie zur Hälfte Zwerg war und etwas kürzer ausfiel, gab dieser Angewohnheit jetzt allerdings einen tieferen Sinn, dachte Helen. Sie selbst zog den Reißverschluss ihrer Lederstiefel zu.
Als könnte sie ihre Gedanken lesen, feixte Titania: »Queen Victoria war auch nur 1,52 m groß. Ich liege im Bereich von Queen Elizabeth, 1,63 m.«
»Ich finde jedenfalls, die machen doch einen sehr schlanken Fuß.«, lachte Helen und reckte ihre Beine senkrecht in die Höhe.
»In Anbetracht der Tatsache, dass wir dringend losmüssen, verzeihe ich dir diesen Fauxpas. Bei nächster Gelegenheit brauchen wir aber die neue Kollektion für dich.«
Ohne eine Antwort abzuwarten, drehte Titania sich um und ging die Treppe hinunter zur Garderobe. Helen folgte ihr augenblicklich. Beide zogen sich ihre Mäntel über, schnürten sich jeweils den Schal fest um den Hals, griffen ihre Handtaschen und traten vor die Haustür. Als Helen sich umdrehte, um die Tür abzuschließen, fragte Titania: »Wo hast du die Kugel gelassen?«
Helen verstaute den Schlüssel in ihrer Handtasche und antwortete: »Da, wo ich sie gefunden habe.« Beide grinsten sich an. »Wo gehen wir denn jetzt hin, meine elfenohrige Freundin?«
»Oh Gott, das werde ich jetzt die nächsten Jahre hören, oder? Wir gehen zu Nick in das Naturhistorische Museum. Vielleicht erinnerst du dich an ihn, Nicholas Carter, Dr. Nicholas Carter. Er hat dich mal angebaggert auf einer Uni Party«
»Wie habe ich reagiert?«
»Du hast ihm leider aus unerfindlichen Gründen einen Korb gegeben.«
»Unerfindliche Gründe?«
»Du fandest ihn langweilig. Genaugenommen sagtest du staubtrocken . Du warst da in deiner Bad-Boy-Phase. Er ist übrigens auch anders .«
»Was auch sonst«, seufzte Helen in den kalten Wind.
Sie gingen die fünf Stufen der Treppe herunter und hielten sich links. Die beiden Frauen benötigten etwa eine halbe Stunde zu Fuß, indem sie den angrenzenden Hyde Park durchquerten, bis sie die ersten Bereiche des Museums erreichten. »Wusstest du, dass man circa drei Tage am Stück braucht, um das Museum ganz zu sehen?«, fragte Helen.
»Ja Helen, das hast du mir bereits gefühlte 494 Mal erzählt.« Sie bogen an der nächsten Kreuzung rechts ein und gingen die Straße entlang bis zum Haupteingang des Museums. Eine Gruppe von ungefähr Zehnjährigen stand vor dem Eingang. Helen erschrak. Ein Junge hatte genau wie Titania lange spitze Ohren. Ein Mädchen hatte eine grünliche Hautfarbe. Sie sah Helen direkt in die Augen und streckte ihr die Zunge heraus. »Mach dir keine Sorgen«, sagte Titania, »Sie ist ein Ork. Das sind oftmals temperamentvolle Kinder.«
»Orks? Es gibt Orks?«, fragte Helen besorgt. Bilder aus Herr der Ringe schossen durch ihren Kopf. Kein beruhigender Gedanke, wie sie feststellen musste.
»Yep. Als Kinder sind sie äußerst impulsiv und schwer zu kontrollieren. Im Erwachsenenalter wirken sie meist überaus bullig vom Erscheinungsbild her. Ihre Schmerzgrenze liegt extrem hoch. Du musst ihnen wirklich schon einen Stuhl über ihren Dickschädel ziehen, damit sie sich beruhigen. Ihr ungezügeltes Naturell bringt sie oftmals in schwierige Situationen. Konflikte mit der Polizei, Prügelein, Randale im Sport und vieles mehr.«
»Aber haben die auch gute Seiten? Ich mein, sind das tatsächlich nur gewaltbereite Grüne? Das Mädchen sieht doch sonst aus wie ein ….« Titania unterbrach sie mitten im Satz: »… wie ihr Menschen? Dass Orks dumpfe Fleischberge mit Hauer als Zähnen sind, ist ein reines Klischee. Genau wie diese höchst seltsame Idee, dass sie dumm sind. Das sind nichts weiter als Mythen und Legenden. Sie sind, nein, WIR sind halt nur anders. Wir sehen etwas anders aus und können andere Dinge. Menschen haben durch die Jahrhunderte viel Blödsinn erfunden und dazu gedichtet. Und ja, Orks haben auch ihre guten Seiten. Viele können ihr Temperament auch zügeln und ihr angeborener Mut macht sie zu unerschrockenen Kämpfern. Wahrscheinlicher ist es aber, dass du sie in Sportarten wie Rugby findest. Ihre Kraft und ihre Unempfindlichkeit gegenüber Schmerzen macht sie zu wahren Talenten im körperbetonten Sport. Außerdem sind sie äußerst sozial. Orks heiraten nur untereinander und sie würden für ihre Familie alles geben. Lass uns jetzt hinein gehen.«
Schweigend nahm Helen diese Erläuterung zur Kenntnis. Beide betraten das Gebäude, in dem sie von dem gigantischen Dinosaurierskelett in der Heintze-Halle empfangen wurden. Unwillkürlich blieben beide für einen kurzen Augenblick ehrfürchtig vor dem imposanten Skelett stehen.
Titania legte die Hand an Helens Arm und nickte nach rechts. Beide gingen am Skelett vorbei und kamen in einen langen Gang, in dem rechts und links an den Wänden lauter Fossilien hingen. Am Ende des Ganges bogen sie in einen weiteren länglichen Korridor ein, in dem Vögel aller Arten und Größen ausgestopft in Vitrinen präsentiert wurden. »Er muss hier irgendwo stecken«, sagte Titania mehr zu sich selbst als zu Helen. Sie folgte ihr wortlos durch die Gänge. Und da stand er. Sie erkannte Nick sofort, selbst von hinten. Breite Schulter, schmale Taille, sandfarbenes Haar, das sich wild bis zu seinen Ohren hinab wand. Er stand völlig versunken vor einer Vitrine.
»Hey Nick, schon wieder was Ausgestorbenes zum Leben erweckt?«, rief Titania aus fast fünf Metern Entfernung zu. Neben ein paar verwirrten Besuchern drehte sich auch Nicholas um. Sein Lächeln setzte Helen k. o.
Nicks braune Augen leuchteten auf, als er die Frauen sah. Obwohl selbst Helen diesen Gedanken gerade für äußerst klischeehaft hielt, gaben ihre Knie ein Stück nach, als Nick auf beide zuging. »Titania!«, er lächelte so charmant, dass jeder Eisblock geschmolzen wäre in diesem Moment. »Wen hast du mir da mitgebracht? Helen, bist du das? Helen Sterling?« Helen war unfähig zu antworten, geschweige denn sich an ihren eigenen Namen zu erinnern. Der Fakt, dass er auch noch gut roch, machte sie vollkommen benommen. Warum hatte sie ihm damals einen Korb gegeben?
»Ja Nick, das ist Helen. Sie hat scheinbar temporär ihr Sprachzentrum verloren. Ich entschuldige mich für ihr Benehmen. Normalerweise kann sie sehr gut sprechen, wirklich.«
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