1 ...6 7 8 10 11 12 ...15 Helen versuchte zu schlucken, aber ihr Hals war trocken wie die Sahara. Sie konzentrierte sich und konnte dann doch ihre Sprache wiederfinden. »Dodo«, sagte sie. Ihr wurde schlagartig bewusst, dass das die mit Abstand dämlichste Antwort war, die man dem attraktivsten aller Studienkollegen entgegenbringen konnte, den man ungefähr 8 Jahre nicht gesehen hat. Titania fuhr sich mit der Hand durch ihr Haar und knickte dabei kurz die Spitze ihres Ohres um. Nick starrte sie für ein paar Sekunden an und begann aus vollen Hals zu lachen. Es war ein tiefes und herzliches Lachen. »Ja, das stimmt. Ich stehe öfter hier vor den Dodos. Faszinierende Tiere nicht wahr?«
»Nein«, erwiderte Helen, »da, ein Dodo!«. Sie zeigte auf den Boden. Nick folgte ihrem Blick nach unten. »Adam! Du sollst doch nicht aus dem Büro raus kommen. Böser Dodo.« Ein etwas 40 Zentimeter hohes Dodo-Küken fiepte schuldbewusst neben seiner Wade. Er watschelte von einem Fuß auf den anderen. Nick bückte sich und hob zärtlich das Junge auf. Er hatte ein flauschiges dunkelweißes bis graues Daunenfell, wobei sein Bauch etwas heller war. Es sah aus, als trüge das Jungtier einen Latz. Er tätschelte ihm den Kopf und Adam plusterte sich vor Entzückung etwas auf.
»Ich schlage vor, wir gehen in mein Büro. Folgt mir.« Sie gingen in ein großzügig geschnittenes Büro. Überall standen präparierte Tiere und die Mittagssonne ließ sie beinahe lebendig aussehen. Einige der Lebewesen konnte Helen beim besten Willen nicht einordnen. Beide Frauen zogen ihre Mäntel aus und setzten sich auf die zwei Stühle, die vor Nicks Schreibtisch standen. Er setzte Adam in eine große Plastikbox, die er mit allerlei Stoffen ausgepolstert hatte. Adam reckte seinen großen und leicht krummen Schnabel über den Rand der Box. Erst als Nick ihm eine Handvoll Würmer in den Schnabel steckte, gab er Ruhe und zwackte Nick dabei kräftig in die Hand. »Adam ist aber groß geworden«, stellte Titania fest.
»Und kräftig«, fügte er hinzu und sah, dass er etwas an der Seite der Hand blutete. Helen starrte seine Hand an. Aus der Wunde kam kein rotes Blut, wie es schien, es sah vielmehr beige aus. »Oh, jetzt erfährst du es wohl auf diese Weise«, erklärte Nick. »Ich bin ein Sandmann.«
»Sandmann?«, entgegnete Helen ungläubig. »Der, der den Schlaf bringt?« Sie stellte sich vor, wie Nick des Nachts mit einem Beutel voll Sand von Schlafzimmer zu Schlafzimmer geht und Träume verbreitet. Der Gedanke an Nick in ihrem Schlafzimmer ließ sie leicht erröten. An Schlaf würde sie als letztes denken in dieser Fantasie.
Nick stand neben dem Wasserkocher und klebte sich ein Pflaster auf die Hand. »Oh Gott, immer diese Vorurteile. Sandmenschen brauchen keinen Schlaf. So einfach ist das. Viele kleine Sandjungen und Mädchen besuchen nachts ihre Freunde, weil sie spielen wollen. Sie müssen erst lernen, dass alle anderen zumeist nachts schlafen. Deswegen muss dieser Aberglaube entstanden sein. Die Farbe unseres Blutes erinnert an Sand, das verlieh uns unseren Namen.«
»Du schläfst nie?«
»Nein, niemals. Das gibt einem unheimlich viel Zeit zum Lesen und Studieren.«
Der Mann stellte drei Tassen Tee auf den Tisch. »Kekse sind leider aus, Adam ist ein Vielfraß.« Er blickte mit gespielter elterlicher Strenge zu dem schlafenden Vogel.
»Wie bist du unter die Sehenden geraten?« Nick schaute Helen interessiert an. Bevor diese etwas sagen konnte, begann Titania die Geschichte zu erzählen. Von Joshuas Tod, dem rätselhaften Hinweis, der Kugel, der Musik und der blauen Flamme. Er saß ganz ruhig da und brummte hin und wieder einfach nur. Sie beendete ihre Erzählung mit den Worten »…und da du der Fachmann bist, sitzen wir nun hier.«
Nick lehnte sich nach vorne und legte die Hände verschränkt vor sich ab. Er schaute Helen fest in die Augen. »Ich beschäftige mich schon sehr lange mit unserer Historie. Unvorstellbar alte Mächte fanden vor vielen, vielen Jahrhunderten einen Weg, die Blindheit rückgängig zu machen. Sie bauten diese Kugeln und Teile ihrer Macht flossen mit hinein. Nenn es Zauberei oder göttliche Allmacht, du wirst nie einen passenden Begriff dafür finden. Die Wissenschaftler streiten sich ebenso lange darüber, wie es existiert. Musik ist aber der einzige Weg, um diese Unfähigkeit zu beseitigen. Sie dringt tief in dein Unterbewusstsein ein und öffnet dieses für die Wahrheit. Zumindest habe ich noch nie von einem anderen Weg gehört. Fakt ist aber, dass dein Bruder in Besitz dieser Kugel kam und dementsprechend auch du. Es liegt jetzt an dir, wie du mit dem Wissen umgehst. Ich vermute, du musst jetzt damit leben. Hauptsache, du hast jetzt kein Tattoo oder so.«
Helen legte ihren Arm auf seinen Schreibtisch, die Handfläche nach oben geöffnet. »Meinst du das?«
Nicholas beugte sich sofort darüber. Sacht fuhr mit seinem Zeigefinger über die schwarzen Linien des Mistelzweiges an ihrem Handgelenk. »Aus der Nähe sieht es beeindruckend aus.« Er begutachtete jede einzelne Linie.
»Weißt du, was es bedeutet?« Aufregung schwang in seiner Stimme mit.
»Wenn ich es wüsste, wäre ich wohl kaum hier, oder? Ich weiß nur, dass es von den blauen Flammen kommt. Es ist weder Kugelschreiber noch Edding. Jetzt kommt dein Part.«
Er hatte ihr Handgelenk noch immer fest in seiner Hand. »Nun ja, ich habe eine gute und eine schlechte Nachricht für dich. Die Gute vorweg: Du bist jetzt eine Druidin. Zumindest ist das die Bedeutung deiner Tätowierung. Das passiert nur sehr, sehr, sehr selten. Und da wären wir schon bei der schlechten Nachricht angelangt: Du bist Druidin.«
Helens Kinnlade kippte innerhalb von 24 Stunden ein weiteres Mal nach unten.
Der Sandmann fuhr fort: »Druiden sind so etwas wie die Beschützer der Anderen . Die Kugel erwählt nur den Menschen, der reinen Herzens ist und diese Macht nicht missbrauchen würde. Vermutlich hat die Kugel während der Musik gewisse Kräfte freigesetzt und auf dich übertragen. Druiden besitzen also Kräfte, die sonst kein Lebewesen hat. Das macht sie zu den Beschützern, ob sie wollen oder nicht.«
Titania drehte sich mit ihrem Oberkörper zu Helen, die immer noch unter Schock stand. »Famos, meine Freundin ist Harry Potter.«
»Auf gar keinen Fall!«, entfuhr es Helen lauter, als sie es beabsichtigt hatte.
»Aber warum denn nicht? Wir besitzen doch Zeit und Geld dafür. Außerdem wäre es doch genau das, was du immer gewollt hast. Du kannst dich in Ruhe mit alten Dingen beschäftigen und nebenher erleben wir aufregende Dinge.« Titania lehnte seelenruhig gegen einen Schrank.
Читать дальше