Sie hatten sie im Stich gelassen. Bis heute wusste sie nicht, was mit ihren Brüdern geschehen war. Sie wartete und wartete. Die Tage vergingen damals, ohne dass sie einen anderen Menschen zu Gesicht bekam. Die Tage gingen und die Nacht kam. Immer wieder aufs Neue wechselten Sonne und Mond am Himmel. Und mit jedem Wechsel wurden die wenigen Vorräte weniger. Bis beinahe alles aufgebraucht war. Und erst dann klopfte ein Mensch an ihre Türe. Ein einziger. Ein großer bärtiger Mann in dreckiger Rüstung stand damals vor ihr. Traurige Augen blickten sie aus dem eingefallenen erschöpften Gesicht an. Sie erinnerte sich daran, als wäre es gestern gewesen. An die Erschöpfung und die Müdigkeit, die den Soldaten gezeichnet hatte. Der Krieg, der ihn auf ewig gezeichnet hatte.
„Mädchen?“, riss sie die Stimme des Gardisten sie aus ihrer Erinnerung. „Willst du hier festfrieren? Geh rein.“
„Verzeihung“, lächelte sie verlegen und ging durch die Tür.
Alora eilte weiter durch die Gänge des Königsturm. Sicheren Schrittes vorbei an Gardisten und anderen Bediensteten, die ihr hinterherriefen gefälligst aufzupassen und die Augen zu öffnen. Unnötige Warnungen für sie. Oft genug eilte sie so schnell wie ein Rennpferd durch die Gänge und hatte noch nie jemanden umgerannt. Sie kannte jede Ecke, jede Biegung und jeden Stein der Feste. Ohne zu übertreiben konnte sie von sich behaupten, die Feste besser zu kennen als so manch anderer. Das erklärte dann auch ihre Verwunderung über die ihr unbekannte massive Wand, die plötzlich hinter einer Ecke erbaut war und ihren schnellen Schritt so plötzlich und schmerzhaft stoppte.
„Raben“, rieb sie sich über die schmerzende Stirn, nachdem sie mit lauten stöhnen zu Boden gegangen war. Völlig verwirrt brauchte sie einen Moment, um sich wieder zu orientieren. Was war hier geschehen? Woher kam die Wand? Es konnte nur ein unvorsichtiger Gardist gewesen sein, der sich ihr in den Weg gestellt hatte. Wände entstanden nicht einfach so über Nacht.
„Bei den Göttern, die Raben sollen dich...!“
Ihr wütender Blick schweifte nach oben und erblickte zwei Rüstungen aus fein geschmiedetem und reich verziertem Stahl. Selbst das schummrige Licht der Fackeln reichte aus, um den polierten Stahl glänzen zu lassen. Das waren keine Gardisten vor ihr. Gardisten trugen nicht solche Prunkrüstungen, und schon gar nicht welche aus glänzendem Silber. Vor ihr standen zwei Männer, die für einen kurzen Moment ebenso überrascht schienen wie Alora.
„Alora! Bei allen Göttern! Mach die Augen auf!“, fluchte der ältere mit seiner tiefen Stimme.
„Es tut mir leid, Duk. Herr Marschall! Ich meine Herr Marschall!“
Fast musste sie ihren Kopf in den Nacken legen, um dem Marschall in die Augen sehen zu können, so groß war der bärtige ältere Mann vor ihr. Trotz seines Alters verströmte er immer noch Kraft und Autorität. Nur die Müdigkeit in seinen Augen, die selbe Müdigkeit, die sie vor Wintern in seinen Augen sehen konnte, als er vor ihrer Tür stand, um vom Tod ihres Vaters berichtete, war immer noch vorhanden. Die breiten Schultern, die mächtigen prankenartigen Hände machten die Trauer in seinen Augen aber oft vergessen. Noch strahlte der oberste Befehlshaber des Worgunischen Militärs seine gewohnte Stärke aus.
„Wer ist das, Duk?“, sagte der zweite Mann neben dem Marschall, während er über die Rüstung strich als hätte er Angst der Zusammenprall hätte sie verbeult.
Alora erstarrte kurz.
„Raben“, murmelte sie, als sie Catel erkannte. Den Sohn Königs Refle und Erben des Reichs.
„Lucas Zimmermädchen, Euer Gnaden“, antwortete Duk knapp, während er Alora weiter ansah.
Catel Schnaubte „Hast du keine Augen im Kopf?“, fragte er mit unüberhörbarer Wut in der Stimme. „Renn nicht kopflos durch den Königsturm, Weibsbild!“
Alora lief rot im Gesicht an und schaute beschämt zu Boden. So oft war sie schon durch die Gänge gerannt, so viele Monde zu jeder Tageszeit und nie war etwas geschehen. Immer hatte sie es geschafft den anderen Menschen auszuweichen und Unfälle zu vermeiden und nun musste sie unbedingt den Prinzen umrennen.
„Komm, Duk. Wir müssen weiter!“, sagte Catel nach einem Moment und ging weiter, ohne auf Duk zu warten.
„Entschuldige“, flüsterte Alora.
„Wieder geträumt?“, lächelte Duk sie an.
„Eher wieder verspätet. Luca wartet auf mich.“
Duk lächelte weiter. „Das Typische also.“
Also nickte. „Er hat mich nicht erkannt, oder?“
„Catel? Nein. Blaues Blut hat keine Augen für die Dienerschaft.
Selbst wenn es die Diener von Luca sind. Mache dir keine Sorgen, Catel ist heute etwas“, er stoppte kurz, „aufbrausend. Noch mehr als sonst.“
„Stimmt etwas nicht?“, fragte Alora mit etwas Sorge in der Stimme.
Duk schüttelte den Kopf und lächelte sie wieder an. „Augen auf“, sagte er noch, als er weiter ging, ohne ihre Frage zu beantworten.
„Ich versuche es“, rief sie ihm noch hinterher, als der Marschall schon hinter der nächsten Biegung verschwunden war.
Kurz fluchte sie innerlich und ging dann weiter. Sie hatte noch mehr Zeit verloren. Es waren jetzt zwei Finger nach der ersten Hand am Morgen und damit wäre sie mehr als zu spät. Das würde Ärger bedeuten. Luca würde sie erneut ausschimpfen und tadeln.
Es wäre nicht das erste Mal, dass Alora Ärger von der Mätresse bekommen würde. Nachdem Duk sie vor Wintern mit in die Feste gebracht hatte, begann sie als normale Küchenhilfe in einer der vielen Küchen für die Gardisten. Nach wenigen Monden jedoch brachte sie Duk zu Lady Luca und von da an war sie das Zimmermädchen Lucas.
„Ich beneide dich nicht, Mädchen“, sagte der Küchenchef ihr damals. „Luca ist eine Zaturin. Refles Großvater wollte damals nicht glauben, dass ihr rotes Haar das Feuer in ihren Seelen repräsentiert!“
Damals wusste Alora nicht viel damit anzufangen. Sie war gerade zehn Winter alt und wusste nicht mal, was eine Zaturin sein soll. Erst später erfuhr sie, dass Zaturien einst ein freies Land gewesen war und nun zu Worgu gehörte. Und auch erst später erkannte sie, was der Küchenchef meinte. Luca konnte herrisch, streng und gemein sein. Das hatte Alora mehr als einmal erleben müssen, gerade zu Beginn ihrer Arbeit bei Luca, als die Mätresse sie wie einen Edelstein nach ihren Wünschen zurechtgeschliffen hatte. Nur ihre Verträumtheit hatte Luca nie wegschleifen können.
Die letzten Stufen endlich erklommen, erreichte Alora Lucas Gemächer. Etwas außer Atem gönnte sie sich einen Augenblick der Ruhe und blieb im Flur stehen. Typisch für den Königsturm spendeten die großen Kerzenhalter mit ihren oberschenkelgroßen Kerzen an den Wänden warmes flackerndes Licht. Sie richtete noch schnell ihre Kleidung, während sie vor die Tür schritt und klopfte an, um ohne auf Antwort zu warten einzutreten.
„Und ihre Vorbereitungen für die Cents sind…“ Hollu stoppte mitten im Satz und blickte nur kurz zu ihr herüber, keineswegs verlegen oder schamhaft, sondern, siegessicher grinsend. Hollu hatte also schon bei Luca gepetzt. Sie hätte es wissen müssen.
„Lady Luca.“ Alora verneigte sich vor der Mätresse und bewunderte erneut das makellose Aussehen.
Lady Luca war eine majestätische Frau mit langen fuchsroten Haaren, einem stolz empor gestreckten Kinn und roten Wangen. Ihre violetten Augen unterstrichen den sehr strengen Blick, der sogar, wenn sie lächelte Autorität vermittelte. Auf ihr Äußeres achtete Luca immer peinlichst genau. Keine Strähne durfte vom Haar abstehen und jede Falte ihres Kleides musste perfekt sitzen. Aber trotzdem lag keine Eitelkeit oder Arroganz in ihren Bewegungen, sondern eine gewisse Weisheit und Würde. Jetzt gerade entdeckte Alora in den Bewegungen Lucas aber nur eines, Wut.
Читать дальше