„Verrecke, du Bastard!“, knurrte Artam ihm zu und wollte gerade den Kehlkopf zerquetschen, als etwas Wuchtiges seinen Unterarm traf. Er spürte, wie die Knochen zersplitterten und der Arm dort wegknickte, wo es eigentlich kein Gelenk hätte geben sollen. Die Finger verloren ihre Kraft und drückten nicht mehr zu, seine Hand berührte seinen Ellbogen und der Arm fiel schlaff herunter.
Er war verwirrt, was ist geschehen? Was war mit seinem kräftigen Arm geschehen? Der Schmerz pochte und er fühlte seine Finger nicht mehr, er konnte sie nicht bewegen. Panik brannte in ihm auf.
„Nicht mein Arm!“, brüllte er auf und Tränen liefen seine Wangen hinab. „Nein, nein, nein.“ Sein rechter Arm war zertrümmert, das einzige was ihn auszeichnete, das einzige, was ihn davor bewahrt hatte ein totaler Krüppel zu sein war zerstört, zerborsten durch einen gezielten Schlag.
„Geht’s dir gut?“, hörte er Ogram, der vor seinem Sohn stand und versuchte dessen unverständliches Krächzen zu deuten.
Den Schmied hatte er blind vor Wut vollkommen vergessen. Er hatte nur noch Umar gesehen und sein einziges Ziel war es gewesen, ihn zu töten. Alles andere hatte er ausgeblendet, das war sein Fehler gewesen. Fest im Griff hielt Ogram noch den dicken Knüppel, mit dessen Hilfe er seine Knochen zertrümmert hatte. Pochend schmerzte sein Unterarm und nahm bereits die wildesten Farben an. Grün, Blau, Gelb, mehr Farben als der Frühling mit sich brachte, ließen sich auf seinem Arm finden. Die unnatürliche Biegung die dort war, wo kein Gelenk sein sollte, ließ ihn nur noch mehr aufheulen. Er hatte gehört, was passieren konnte, wenn Knochen zersplitterten, er kannte die Geschichten von Feldschern, die davon erzählten, dass es so komplizierte Brüche gab, dass die einzige Möglichkeit darin bestand, den Arm zum amputieren. Allein der Gedanke seinen starken Arm verlieren zu können, machte ihn wahnsinnig und brachte den starken Artam dazu zu heulen wie ein Säugling der nach seiner Mutter rief.
„Verzeih mir, Junge. Aber wir haben keine Wahl“, stand Ogram plötzlich vor ihm und hielt immer noch den Knüppel in seiner Hand. War es Reue, was er noch in Ograms Gesicht lesen konnte? Er erkannte es durch die Tränen, die seine Augen ertränkten, kaum und spürte nur einen plötzlichen dumpfen Schlag. Und dann noch einen.
Einmal.
Zweimal.
Dreimal.
Beim dritten Mal hörte er ein lautes Knacken in seinem Kopf, es erinnerte ihn an das Brechen von dicken Ästen, nur, dass es kein Ast war der hier brach. Es war sein Schädel. Mit jedem Schlag wurde das Knacken leiser und das dumpfe Pochen weniger, immer weiter rückte es in die Ferne und sein Blick verdunkelte sich. Bis er schließlich nichts mehr hörte und zu Boden fiel.
Das lachende Gesicht Agors und seiner kleinen Schwester Alora vor Augen. Er hatte sie alle enttäuscht.
„Der erste Schnee“, lächelte sie.
Dicke Flocken tänzelten vom Wind getragen zielsicher gen Boden. Das Mädchen beobachtete durch ihr kleines Fenster das Windspiel der weißen Pracht und schaute dabei zu, wie die Flocken die dreckigen grau-schwarzen Steine der Feste weiß färbten.
Wie jeden Morgen stand Alora am Fenster ihrer Stube und band sich die langen braunen Haare zusammen. Sie hörte das gewohnte Dröhnen der Hörner, die den allmorgendlichen Wachwechsel ankündigten. Der tägliche Wecker, der sie ansonsten immer unsanft aus dem Schlaf riss und den nächsten anstrengenden Tag einleitete. Aber heute war sie vor dem Dröhnen wach geworden. Eine Ausnahme, wie sie selbst wusste. Aber gerade heute eine willkommene Ausnahme. Erneut streckte sie sich, bis im Rücken ein angenehmes Knacken zu vernehmen war und bereitete sich mental auf den heutigen Tag vor. Heute müsste sie endlich mit ihren Vorbereitungen für das Ereignis fertig werden, das seit mehr als einem Mond das einzige Gesprächsthema innerhalb der Feste war. Der Besuch der Cents. Oder besser gesagt der Besuch der Centischen Herrscherfamilie. Auch wenn sie nie großes Interesse an Politik hatte wusste sie - jeder wusste es schließlich - dass Cent eines der mächtigsten Reiche der bekannten Welt war. Südlich von Worgu gelegen war es der direkte Nachbar ihrer Heimat. Und seit dutzenden Wintern war es der erste Besuch der Cents. Dementsprechende Aufregung und Anspannung war in der gesamten Feste zu spüren.
Nach ihren Kleidern suchend glitt ihr Blick durch ihre kleine gemütliche Stube. Etwas wirklich Besonderes entdeckte sie nicht. Ein Bett, ein kleiner dunkler Tisch mit Hocker und eine kleine Kommode aus hellem Nadelholz waren alles, was sich in ihrem kleinen Zuhause befand. Und trotzdem mochte sie es, so wie es war und wollte nichts daran ändern. Schließlich war es warm, das Bett sauber von Ungeziefer und sie musste nicht hungern.
Nicht schon wieder hungern , dachte sie kurz, aber schüttelte den Kopf und verdrängte so den kurz aufkeimenden Gedanken wieder, der die blassen, kaum noch vorhandenen Erinnerungen wieder aufflammen lassen wollte. Sie musste sich wieder auf das Hier und Heute konzentrieren. Und das bedeutete erstmal ihre Kleidung zu finden. Und das war trotz des eher begrenzten Platzes in ihrer Stube manchmal gar nicht so einfach. Denn genug Platz für Unordnung war vorhanden. Und wenn sie eines Meisterhaft beherrschte, war es Unordnung zu schaffen. Ihre Klamotten häuften sich in den Ecken der Stube und Staub gewischt hatte sie wohl seit einem Mond nicht mehr. Trotzdem fühlte sie sich wohl in ihrem kleinen persönlichen Königreich, und ihrer Meinung nach hatte ihr niemand vorzuschreiben, wie es auszusehen hatte, solange sie sich wohlfühlte. Obwohl sie sich eingestehen musste, dass ein wenig mehr Ordnung die zur Routine gewordene Kleidersuche jeden Morgen deutlich erleichtern würde.
Die ersten unbrauchbaren Kleider flogen von einem Klamottenberg auf den anderen und ließen ihn so schnell wachsen wie der andere schrumpfte. Zwischen den dreckigen und übelriechenden Kleidern fand sie immer wieder mal saubere und brauchbare Kleider, aber keines davon gefiel ihr, sodass auch die eigentlich frischen Kleidungsstücke mit Schwung weggeschleudert wurden.
„Aha!“, schnaubte sie triumphal, als sie ein sauberes Unterkleid aus einem dem Wäscheberge zog und siegreich in die Höhe hielt. „Jetzt nur noch der Rest.“ Das gewählte Unterkleid landete nach einem kräftigen gezielten Wurf auf ihrem Bett, wo es so schnell nicht mehr verschwinden konnte.
„Wo ist denn der Rest meiner Kleidung? Ich hatte doch gestern alles bereitgelegt“, redete sie teilnahmslos mit sich selbst und wühlte weiter in dem Wäscheberg herum. Ein Hornstoß kündigte das Ende des Wachwechsels im Hof an. Er wurde von Alora aber ignorierte und sie suchte weiter.
„Wieder mal nicht aufgeräumt Alora?“, unterbrach sie plötzlich eine schrille Stimme in ihrer Suche und riss sie aus der aufgebauten Konzentration. Vor Schreck wäre sie beinahe rückwärts umgefallen, wenn der Tisch ihr keinen sicheren Halt geboten hätte.
„Raben!“, fluchte sie leise und schaute zur Tür, in der sie sofort den großen bereiten Schatten erkannte. Die schrille hohe Stimme ließ keinen Zweifel zu, wer sich erneut an sie herangeschlichen hatte.
„Hollu“, sagte sie ohne Freude in der Stimme. Das zweite Zimmermädchen der Mätresse hatte sich wiedermal wie eine Schlange angeschlichen und wartete auf die Gelegenheit zuzuschlagen. Dass Hollu sich mit ihrer Körperfülle überhaupt an irgendetwas heranschleichen konnte, verwunderte Alora immer wieder aufs Neue. Sie bewunderte dieses Talent sogar ein wenig. „Wie ich sehe“, Hollus Doppelkinn tanzte vor Schadenfreude, „bist du spät dran. Erneut.“
Das letzte Wort betonte sie wie ein Minnesänger.
„Hollu! Bei allen Göttern, du sollst anklopfen, wenn du in meine Stube kommst!“
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