»Heute liegt irgendetwas Ungutes in der Luft.« Carlo nahm Sokrates den intakten Schuh ab, den dieser vorsichtig zwischen seinen Zähnen hielt. Fast wäre er von dem Wurf getroffen worden. Carlo wog das Teil prüfend in der Hand und zwinkerte dem älteren Herrn zu.
»Irrtum, heute fliegt was Teures durch die Luft.« Er wusste schon, wie er die Schuhe zu Geld machen konnte. Sein Blick ging hinüber zum „Weißen Hasen“. Ein Lichtreflex hatte ihn aufmerksam gemacht. Im ersten Stock stand ein Fenster leicht offen. Carlo sah genauer hin. Er würde sich später gut an das Gesicht erinnern. Überhaupt würde er diesen Tag sein Leben lang nicht vergessen.
Das Fenster hätte früher geöffnet werden müssen, als die Sonne noch nicht so hoch stand. Ein böser Fehler. Dieser verdammte Bettler auf der anderen Seite hatte sofort hergesehen. Das war sein böser Fehler. Die Sichtverhältnisse waren optimal und auf die kurze Entfernung von vielleicht zwanzig Metern würde kein Schuss fehlgehen. Die Waffen lagen gut und sicher in der Hand. Nur noch wenige Minuten.
Die Demo hatte begonnen. Wie ein unaufhaltsamer Lavafluss wälzte sie sich durch die Annastraße, vorbei an der Kreissparkasse, dem Martin-Luther-Platz, der Thalia-Buchhandlung. Ein paar Herrschaften, die sich an den Bistrotischen von Feinkost-Kahn einen kleinen edlen Imbiss gönnten, verschluckten sich an dem exquisiten Weißwein angesichts der empörten Menschenmasse, die sich auf breiter Front näherte. Ein rotgesichtiger Mittvierziger, die Sonnenbrille auf die Stirn hochgeschoben, schlug mit den Flügeln, plusterte sich auf und beschwerte sich lautstark über die Herde Asozialer, die eine Schande für Augsburg sei. Die Herde ignorierte ihn und seine tief ausgeschnittene Begleiterin tätschelte ihm beruhigend den Rücken. Links und rechts begleiteten Bereitschaftspolizisten mit Helm, Schlagstock und dem üblichen Werkzeuggürtel ausgerüstet den Marsch der Achttausend. (Der Polizeisprecher würde später von annähernd viertausend Personen reden). Melzick, Zacharias und Jocelyn liefen im vorderen Drittel mit. Direkt hinter ihnen peitschte eine von mehreren Trommlergruppen einen unwiderstehlichen Sambarhythmus in die Arme, Beine und Köpfe der Demonstrierenden. Zacharias ließ sich von der Stimmung anstecken, skandierte aus vollem Hals und achtete nicht weiter auf Jocelyn. Melzick trug mit ihr zusammen das blaugrüne Banner. Sie spürte, was mit Jocelyn los war. Der Lärm ließ keine Unterhaltung zu. Sie blickte sie aufmunternd an, doch Jocelyn reagierte nicht darauf. Ihr Blick war starr auf das Pflaster der Annastraße gerichtet. Ihre linke Hand umklammerte den Stecken, mit dem sie das Transparent hochhielt. Melzick hatte beschlossen, gruppendynamisch immun zu bleiben und so wachsam wie möglich diesen ungewöhnlichen Marsch hinter sich zu bringen. Jocelyns Angst hatte sie in erhöhte Alarmbereitschaft versetzt. Sie sah die Polizisten. Sie sah deren Nervosität. Sie hörte die Sprechchöre lauter werden. Sie spürte die rasenden Trommeln hinter sich und sie blickte in die Gesichter der Menschen ringsum. In diesem Moment wünschte sie, sie wäre zuhause geblieben und hätte Lucys Einladung angenommen.
Carlo räumte die Holzschatulle, in der nur wenige Münzen lagen, zur Seite und rollte seinen Teppich zur Hälfte zurück. Sokrates winselte unruhig. Die Trommeln und die Schreie der Menschen waren nichts für seine empfindlichen Ohren. Carlo hatte beschlossen, den Platz nicht zu räumen. Er wusste, worum es bei der Demo ging. Mehrere Passanten dicht neben ihm hatten sich darüber unterhalten. Die meisten zeigten Unverständnis, Ärger, waren entsetzt und besorgt über die Auswirkungen auf die Wirtschaft, auf Augsburgs Ruf und witterten bürgerkriegsähnliche Zustände. Carlo wäre nie auf die Idee gekommen, für oder gegen etwas zu demonstrieren. Das kam ihm so sinnvoll vor, wie den Lech um Augsburg herumzuleiten oder den Rathausplatz zu überdachen. Aber er respektierte jeden, der sich für etwas einsetzte, der seine Meinung sagte und sich dafür auch beschimpfen ließ. Im Beschimpfenlassen war er Experte. Die Leute, die für das Klima kämpften, waren ihm sympathisch, vor allem wegen ihrer Naivität. Die Vorstellung, die Wirtschaft würde auf die Vernunft hören, wenn sie nur laut genug hinausposaunt wurde, belustigte ihn.
»Es wird etwas eng werden, Sokrates«, brummte er. Sokrates knurrte zustimmend und rollte sich an der Mauer neben Carlo zusammen.
»Bleibt nur, wo ihr seid«, murmelte die Stimme. »Bewegt euch nicht.« Dieser Bettler schaute schon wieder herüber. Aber das war jetzt gleichgültig. Er würde ein leichtes Ziel sein, sofern die Demonstranten nicht zu dicht hintereinander herliefen. Würden sie das tun? Nein, das war nicht zu erwarten. Solche Umzüge zogen sich erfahrungsgemäß auseinander. Da kommen ja schon die ersten. Diese albernen Gutmenschen und Wichtigtuer mit ihrer Mission. Er würde leicht zu erkennen sein. Er war ja nicht zu übersehen. Und höchstwahrscheinlich war er auch nicht zu überhören.
Die Frau, die direkt vor Melzick auf der linken Seite des Demonstrationszuges lief und sich bisher ruhig verhalten hatte, fing plötzlich an zu schreien.
»Hey Falk! Falk! Hier bin ich! Huhu, Falk! Hey Mann!« Melzick schätzte sie auf etwa vierzig. Die leuchtend blonden Haare waren auf einer Seite kurzgeschoren, auf der anderen schulterlang. Sie trug ein kleines, braunes Pappschild, auf dem mit blauer Acrylfarbe in unbeholfenen Blockbuchstaben „ALLE MACHT DER FREIEN ENERGIE“ gepinselt war. Der Mann, den sie auf sich aufmerksam machen wollte, war fast zwei Meter groß. Er war Melzick schon vorhin auf dem Königsplatz aufgefallen, weil er auf die einsetzenden Trommelschläge mit wilden Zuckungen seiner Arme und Beine reagiert hatte. Aber dann hatte sie ihn aus den Augen verloren. Er musste sich von weiter hinten nach vorne durchgedrängelt haben. Mit seiner schwarzen Afrolook-Frisur und dem schwarzen Vollbart war er alles andere als unauffällig. Abgesehen davon gebärdete er sich, als wäre er mit hunderttausend Volt geladen. Seine Stimme war rau und kräftig. Er gab die Parolen vor und alle Teilnehmer in seiner Hörweite antworteten im Chor. „HOCH MIT DEM KLIMASCHUTZ — RUNTER MIT DER KOHLE“ oder „AUF DIE BARRIKADEN — AUF DIE BARRIKADEN“ oder „WHAT DO WE WANT? — CLIMATE JUSTICE! — WHEN DO WE WANT IT? — NOW!!“ Wie ein Irrwisch zappelte er dabei mit seinen Armen und verscheuchte damit jeden in seiner unmittelbaren Nähe. Die blonde Frau versuchte es noch einmal.
»Verdammt nochmal, Falk! Hörst du nicht? Falk! Falk!!« Ihre Stimme überschlug sich. Er reagierte nicht darauf. Er lief rechts außen und war nicht zu bremsen.
»Der hört Sie nicht«, rief Melzick der Blonden zu. Sie drehte sich zu Melzick um.
»Der will mich nicht hören, der will mich nicht sehen, der will überhaupt nichts mehr, dieser …« Ihr Schimpfwort ging im nächsten Sprechchor unter. Melzick zuckte mit den Schultern. Die Frau warf einen kurzen Blick auf Jocelyn und dann nach rechts.
»Wo ist er denn plötzlich hin?« Melzick deutete nach vorn.
»Scheint ein Drängler zu sein.« Sie waren jetzt auf der Höhe des Teeladens „Eilles“. Der schwarze, wilde Haarschopf war vier, fünf Reihen weiter vorn zu sehen. Er lief direkt auf den „Weißen Hasen“ zu. Die Trommelgruppe hinter Melzick schlug einen neuen Rhythmus an. Zacharias grinste zu seiner Schwester hinüber. Er legte den Arm auf Jocelyns Schulter, die zwischen ihnen ihre zaghaften Schritte machte.
»Läuft doch alles prima!«, rief er in ihr Ohr, um die Djemben zu übertönen. Melzick hörte weiter vorn die unverkennbare Stimme des Mannes, der Falk genannt wurde. Seine Energie war unerschöpflich, als hätte er eine doppelte Dosis Aufputschmittel genommen. Der Demonstrationszug kam ins Stocken. Carlo hatte seine schwere Hand beruhigend auf Sokrates’ Nacken gelegt. Inmitten der unzähligen Menschen fielen ihm zwei besonders auf: Dieser riesige verrückte Mann mit der gewaltigen Stimme und ein paar Reihen weiter hinten eine junge Frau mit einem Turm aus roten Dreadlocks auf dem Kopf. Nie im Leben wäre er auf die Idee gekommen, dass es sich dabei um eine Polizistin handeln könnte. Er sah, wie der Mann wild mit den Armen um sich schlug.
Читать дальше