»Wollen wir das Transparent gemeinsam tragen?«, fragte Melzick. Jocelyn lächelte scheu und reichte ihr einen der Holzstäbe. In diesem Moment ließ ein schriller Pfeifton die riesige Menschenmenge zusammenzucken. Gleich darauf ertönte Phils Stimme aus gewaltigen Lautsprechern. Er stand auf einem hölzernen Podest Marke Eigenbau, das wie ein oben abgesägter Hochsitz aussah.
»Sorry Leute. Leiht mir euer Ohr für ein paar Sätze, bevor wir mit der Demonstration unserer Wut, unserer Empörung und unserer Forderungen loslegen. Ich bin Phil und ich bin hier verantwortlich. Ihr seid schätzungsweise achttausend und jeder einzelne von euch ist auch verantwortlich. Das wird die größte legale Demo, die Augsburg je gesehen hat.« Ohrenbetäubender Jubel brach aus. Phils Ansprache wurde von einer Sambatrommelgruppe auf mindestens drei Dutzend Djemben in einem gleichmäßigen, langsamen Rhythmus begleitet. Wie von ihm beabsichtigt, verstärkte dieser Sound die Wirkung seiner Worte enorm.
»Lasst uns ein Experiment machen. Zeigt eure Wut, aber seid friedlich! Macht eurer Empörung lautstark Luft, aber bleibt sympathisch! Präsentiert eure Forderungen energisch, aber gewaltfrei! Seid kreativ, witzig, frech, aber ohne Alkohol! Seid unüberhörbar und unübersehbar, aber ohne falsche Parolen!« Phil wusste, wann er eine Pause zu machen hatte. Melzick bewunderte im Stillen seine Fähigkeit, eine solche Menschenmenge mit wenigen Worten einzustimmen.
»Habt ein Auge auf eure Nebenleute! Wenn ihr in Kontakt mit der Polizei kommt, seid wortlos freundlich! Euer Lächeln ist die einzige Waffe, die erlaubt ist. Ich bin Phil und ihr seid achttausend und jeder von uns ist verantwortlich. Haltet euch an meine Empfehlungen. Dann wird das Experiment gelingen und das wird die beste Demo, über die je in der Tagesschau berichtet wurde.« Phil legte das Mikro aus der Hand, reckte beide Daumen in die Höhe und kletterte vom Podest. Die Sambatrommeln verstummten abrupt und über dem menschenübersäten Königsplatz schwebten Jubelrufe, Beifallspfiffe, Trillerpfeifen und einige ohrenbetäubende Vuvuzelas. Weit über hundert Polizisten in voller Montur, an strategisch wichtigen Punkten postiert, reckten die Schultern, atmeten tief durch, rümpften die Nase, blickten stoisch geradeaus, schwitzten und einige von ihnen wünschten, der ganze Zinnober wäre schon vorbei. Zacharias schlug Phil auf die Schulter.
»Tolle Performance, Mann, echt fernsehreif!« Phil wirkte angespannt und warf ihm einen ernsten Blick zu.
»Es geht heute nicht um Unterhaltung.«
»Schon klar. Aber du weißt, wie man die Leute richtig packt«, sagte Melzick. Sie fragte sich jedoch, ob all die Teilnehmer wussten, wie man friedlich seine Wut zeigt. Sie wusste es jedenfalls nicht. Sie stand neben Jocelyn. Gemeinsam hielten sie ein weißes Transparent hoch, auf dem in grünen und blauen Buchstaben „VEGAN FOR THE PLANET“ stand, neben einer grün und blau gemalten Planetenkugel. Phil hustete kurz.
»Ich kann nur hoffen, dass mir alle zugehört haben und dass sich keine Faschos einschleichen. Ich hätte da noch ein deutlicheres Statement raushauen sollen.« Zacharias musste an die Gruppe mit den gelben Mützen denken.
»Was können so ein paar Knallköpfe schon groß anrichten?«, fragte er, doch Phil war schon dabei, sich an die Spitze der Demo durchzukämpfen, quer über den Königsplatz bis zum Anfang der Annastraße. Dort begann die zentrale Fußgängerzone Augsburgs. Zacharias tauschte einen Blick mit seiner Schwester. Melzick zuckte mit den Schultern.
»Ist wie im Flugzeug: die besten Plätze sind nicht vorn. Ich glaub, wir halten uns irgendwo in der Mitte auf.« Die Trommeln setzten mit Vehemenz wieder ein und legten einen scharfen Rhythmus vor. Die ersten Sprechchöre gellten über die Köpfe hinweg. Zacharias schaute sich suchend nach allen Seiten um. Die riesige Menschenmenge bewegte sich in kleinen Schritten auf die Annastraße zu, die wie ein Flaschenhals am nördlichen Ende des Königsplatzes wirkte. Viele traten unruhig auf der Stelle. Nach schier unendlichen Minuten erreichte die Vorwärtsbewegung auch Melzick, Jocelyn und Zacharias. Sie streckten ihr Transparent in die Höhe.
»Denkt dran, was Phil gesagt hat«, rief Melzick den anderen beiden zu.
»Ja, ja«, gab Zacharias zur Antwort, »lass dein Grinsen eine Waffe sein, oder so.« Jocelyn hielt sich zwischen den beiden und sah die meiste Zeit auf die Schuhe der vor ihnen Marschierenden. Ihr war alles andere als nach Lächeln zumute.
Carlo saß zur selben Zeit am anderen Ende der Annastraße auf seinem fliegenden Teppich und lehnte mit dem Rücken an der Mauer eines großen Geschäftshauses. Er hörte die Trommeln näherkommen. Sokrates lag vorne auf dem Teppich neben der Holzschatulle mit dem Kopf auf den Vorderpfoten und zuckte leicht mit den Ohren. Carlo hatte seine Flöte weggelegt und beobachtete die Passanten. Viele trugen eine Plastiktasche mit ihren neuesten Konsumschätzen in der einen und etwas Essbares in der anderen Hand. Manchmal stellte Carlo in Gedanken eine Statistik auf und zählte die Döner, Wraps, Pizzen, Pommes und Brezen, die an ihm vorbeigetragen wurden. Wenn er genug davon hatte, packte er sein Brot aus dem Rucksack und gab auch Sokrates seine Ration. An guten Tagen legte jemand einen Hundekuchen neben die Holzschatulle. Den durfte Sokrates dann immer sofort vernaschen. Heute allerdings schien es einer von den schlechteren Tagen zu werden. Carlo nahm es gleichmütig hin. Von links näherten sich drei auffallend gekleidete Damen mittleren Alters, die in ein reges Gespräch vertieft waren. Die Wortführerin hatte sich umgedreht und lief nun rückwärts auf Carlos Platz zu, während sie ihren beiden Begleiterinnen wild gestikulierend etwas Extraordinäres erzählte. Dieses Wort war das erste, das Carlo aufschnappte. Sie gebrauchte es mehrmals und achtete nicht auf etwaige Hindernisse, im unerschütterlichen Glauben, für sie gebe es keine Hindernisse. Carlo kannte die Sorte, aber er reagierte zu spät. Bevor er noch etwas rufen konnte, verfing sich ihr linker Stöckelschuh, von dessen Gegenwert Carlo einen Monat lang hätte leben können, in der etwas hochstehenden Ecke seines fliegenden Teppichs. Sie kam ins Stolpern, stieß einen Schrei aus und landete unsanft auf ihrem sündhaft teuren Hosenboden. Sokrates bellte genau zwei Mal. Sofort stürzten ihre beiden Begleiterinnen auf sie zu und halfen ihr mit vereinten Kräften hoch. Carlo war so schnell er konnte auf den Beinen. Er hob beide Hände zum Zeichen seiner Unschuld.
»Oh, oh, haben Sie sich wehgetan, sind Sie verletzt? Kann ich Ihnen helfen?«, stammelte er. Der bleistiftdünne Absatz lag leblos auf dem abgewetzten Teppich. Carlo griff danach und hielt ihn seiner Besitzerin vor die Nase.
»Mein Gott, Vera! Deine Hose!«, rief eine der Begleiterinnen. Vera hatte es für einige Momente die Sprache verschlagen. Sie starrte den Absatz in Carlos Fingern an. Sie starrte Carlo an. Sie starrte Sokrates an. Sie hatte sich nicht verletzt. Sie hatte keine Schmerzen. Aber sie hatte eine Mordswut. Ihr Zeigefinger, ein dunkelroter Fingernagel, wegen des Sturzes hässlich abgesplittert, schoss auf Carlos Brust zu. Sokrates knurrte leise ganz hinten in seiner Kehle. Er hatte sich auf die Hinterpfoten gesetzt und ließ die Frau, die sein Herrchen angriff, nicht aus den Augen.
»So was wie Sie«, fauchte sie, »hat hier in dieser Stadt nichts verloren! Das war heute Ihr letzter Tag! Dafür werde ich sorgen!« Ihre dunklen Augen blitzten. Aus ihrem Zeigefinger wurde eine Faust und sie riss Carlo den Absatz aus den Fingern. Er musterte sie wortlos. Solche Sätze waren nicht neu für ihn. Die Frau namens Vera humpelte, von ihren Freundinnen gestützt, ein paar Schritte, kam sich lächerlich vor, riss sich den defekten und den anderen Schuh von den Füßen und feuerte beide in Richtung Carlo. Den Absatz behielt sie aus nur ihr erfindlichen Gründen. Ein älterer Herr mit Stirnband und Pferdeschwanzfrisur beugte sich zu Carlo herab.
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