Und dann sah ich im Bereich des sommerlichen Arrangements jener Miniaturanlage einen kleinen Ort, eingeklemmt in einer Schlucht, überflutet von Hochwasser, rundum zerstörte Häuschen, gepflastert mit umgestürzten Bäumen, im Wasser stehenden Lastwagen, Bussen und umhergewirbelten Autos. Menschen lagen herum – auf den Straßen, zwischen den zerstörten Häusern. Sie trieben dahin in einem überschäumenden Fluss. Dann fiel mein Blick woanders hin. Etwas davor, vielleicht ein winziger Zeitabschnitt zuvor, etwa im Frühsommer, erkannte ich plötzlich den romantisch daliegenden, dunkelblauen Badesee mit dem Floß, auf dem ein junger Schwimmer in Badehose stand, während vor ihm auf dem Wasser drei Personen in Bauchposition schwammen, scheinbar tot.
*
Dirk zögerte, aber nur in Gedanken, und in Gedanken dauerte es bei ihm sowieso immer ziemlich lange. Das Wasser hat vielleicht sechzehn Grad. Höchstens achtzehn, dachte er. Immerhin war ein wenig vom abgebrochenen Medizinstudium hängen geblieben. Er kannte sich aus, man konnte bei so etwas wirklich einen Herzschlag bekommen. Aber wie gesagt, er zögerte nur in Gedanken, in der physischen Welt bewies er Mut. Er sprang ins Wasser, und in der Tat blieb sein Herz stehen, zumindest schien es ihm so. Er rang nach Luft und spürte, wie seine Haut im eiskalten See gefühllos wurde. Eine verrückte Idee, jetzt zu schwimmen, dachte er. Und dann: Aber es war deine Idee, »Pancho«!
Dirk hatte die amerikanische Zeichentrickserie aus den Siebzigern – sie hieß »Sancho und Pancho« – auf einer CD seiner Mutter entdeckt und geliebt. Es waren zwei Frösche, die täglich darum bangen, nicht von Vögeln gefressen zu werden. Pancho war der Dummfrosch und Sancho hingegen der großmäulige Klugschwätzer. In der Serie war Pancho dem Klugschwätzer treu ergeben, was dieser oft schamlos ausnutzte. Und so war es im wirklichen Leben der beiden Logistikmitarbeiter.
Pancho machte ein paar kräftige Schwimmstöße auf Sven zu.
Die beiden Mädchen saßen im Wagen und sahen sich an. Tanja grinste. „Wenn die’s können, können wir’s auch“, sagte sie und schälte sich aus ihrem LaCoste-Shirt. Ein durchsichtiger BH kam zum Vorschein. „Wir Frauen haben dafür doch eine Extra-Fettschicht, oder?“
Sie setzte über den Zaun und rannte auf das Wasser zu, im Laufen streifte sie ihre Cordhose ab. Wenig später folgte ihr Nicole, so wie Dirk seinem Vorgesetzten Sven gefolgt war.
Bevor die beiden Paare zum See gefahren waren, hatten sie sich am frühen Abend in Svens und Nicoles Wohnung getroffen. Es war Dienstag, die letzten Arbeiten bei ihrem Logistikhändler MyClo auf dem Gelände des Immobilieninvestors Dr. Wüst waren erledigt. Sven verdiente am besten, und so kam es, dass er der Einladende war. Der Kühlschrank war ausreichend gefüllt gewesen und genug Bier kaltgestellt. Über seine und Nicoles Anlage ließen sie House Music laufen.
Sie hatten etwas getrunken, bis sie in Stimmung kamen, schließlich hatte Sven eine Idee: „Mal sehen, wie es wirkt, jeder nur einen einzigen Minitropfen pro Würfel!“ Er ging zum Süßigkeiten-Schrank und holte ein Fläschchen und vier Würfelzucker hervor. Mit einer Pipette („Nur eine halbe Portion!“, rief er) träufelte er etwas aus der kleinen braunen Flasche auf die Würfel. „Weniger als ein Tropfen, ich schwör!“, rief er enthusiastisch.
„Wirkt es sofort?“, fragte Tanja.
„Das kann über eine Stunde dauern, je nachdem“, antwortete ihr Nicole.
Und dann war das Gespräch auf den komischen Sommer gekommen, der bis zum heutigen Tag noch immer kein richtiger Sommer war. Im Radio war für das kommende Wochenende schwerer Niederschlag im Westen des Landes angesagt worden. Gewissermaßen kühles herbstliches Wetter, zu früh für’s Jahr.
Aber Mittelhessen war nicht der Westen Deutschlands. Es war eindeutig die Mitte unseres Landes – und die Mitte des EU-Europas – und deshalb begehrtes Ansiedlungsobjekt der Logistikbranche: nur 500 Kilometer bis zu den osteuropäischen Staaten, und ebenso viele Kilometer bis in die angrenzenden südlichen, westlichen und nördlichen Länder.
Dirk hatte bezweifelt, dass man mit vier Tagen Vorlauf eine Wetterprognose zu stellen vermochte.
Tanja hatte den Vorschlag gemacht, dass Wetterheinis, die im Sommer Herbstwetter voraussagen, erschossen gehörten, und niemand hatte ihr widersprochen.
Nicole meinte wehmütig, als sie noch Kind war, hätten die Sommer ewig lange gedauert; aber seit sie erwachsen war (»eine zittrige, senile Dreiundzwanzigjährige«, hatte Sven gespottet, und Nicole hatte ihm dafür unter dem Tisch einen Tritt versetzt), seien die Sommer von Jahr zu Jahr kürzer geworden.
„Mir ist es damals so vorgekommen, als wäre ich Tag und Nacht am See in der Nähe meines Elternhauses gewesen, als hätte unsere Clique Tag und Nacht gegrillt und auf der erfrischend feuchten Wiese am Strand des Sees zur gestreamten Musik getanzt“, sagte Nicole. Sie ging zum Kühlschrank, inspizierte sein Inneres, das tatsächlich bis zum Platzen aufgefüllt war, und fand hinter einer Reihe blauer Tupperware-Dosen eine Packung mit Mars-Riegeln. Eine der Tupperware-Dosen ging auf, als sie nach der Mars-Packung griff, und heraus fielen prähistorische Chilischoten, die mit einer unansehnlichen Kruste verziert waren.
Dirk machte sich als Disponent ganz gut, und Sven spielte wirklich gut Fußball, aber weder der eine noch der andere hatten eine Ahnung, wie man einen Haushalt führte. Chilischoten und Lebensmittel-Organisation waren nicht ihr Ding. In klassischer Manier oblag dies den Mädels. Traditionen sind so zäh, so schrecklich zäh, dachte sich Nicole.
Während sie die Mars-Packung aufriss, erzählte sie: „Ich kann mich noch genau erinnern, wie ich das erste Mal bis zu einem Badefloß geschwommen bin. Ich saß dann zwei Stunden auf dem Floß und hatte Angst zurück zu schwimmen.“
Sie hatte sich neben Sven gesetzt, und Sven hatte den Arm um sie gelegt. Sie lächelte, als sie sich an das Abenteuer erinnerte, und Dirk kam auf einmal der Gedanke, dass Nicole aussah wie jemand furchtbar Berühmtes, jedenfalls wie jemand, der einigermaßen berühmt war. Allerdings fiel ihm nicht ein, wer das war. Erst später, unter weniger angenehmen Begleitumständen, sollte er darauf stoßen.
„Mein Bruder musste dann zum Floß schwimmen und mich mit einem Autoschlauch an Land holen. Mann, war der wütend! Und ich hatte auf dem Floß einen Sonnenbrand bekommen, das glaubt ihr nicht.“
„Das Floß – also ein anderes Floß – ist noch da“, sagte Dirk, um etwas zu sagen. Ihm war aufgefallen, dass Tanja schon wieder zu Sven hinübersah. Dirk fand, in der letzten Zeit sah sie Sven etwas zu oft an.
Doch jetzt sah Tanja ihn an. „Wer weiß, ob die Badesaison wegen Corona nicht ausfällt. Vielleicht ist der See gesperrt.“
„Aber das Badefloß ist draußen; ich habe es mit eigenen Augen gesehen!“, sagte Dirk. „Ich war vor kurzem am See gewesen, und da hab ich’s gesehen. Es sah aus wie …“ Er zuckte die Schultern und fuhr fort: „…wie ein Stück echter Sommer, das sie in der verfickten Coronazeit vergessen haben.“
Er hatte gehofft, dass jemand über die Bemerkung lachen würde, aber den Gefallen taten sie ihm nicht, nicht einmal Sven.
*
An jenem Abend, als die vier jungen Leute unweit unserer Wohnung in ihrem Appartement einen fatalen Entschluss fassten, saßen Stella und ich auf unserem Balkon bei einem Gläschen Rotwein und sprachen über einen neu entfachten Leserbrief-Krieg. Und wieder ging es um das Logistikmonster, wie die Kritiker des Wüst-Imperiums den Klotz auf der Langsdorfer Höhe nannten.
Wie sich einige meiner Leser gewiss erinnern, hatte ich im Mai meinen Thriller »Tod in Lich« veröffentlicht. Aber bitte fragen Sie in keiner Buchhandlung danach; suchen Sie bitte auch nicht im Internet nach diesem Titel; die Auflage ist ausverkauft, und ich werde aus guten Gründen keiner weiteren Auflage zustimmen – ich habe genug mit aktuellen Storys am Hut. Jedenfalls erzählte ich in diesem Thriller die Geschichte des zu billigsten Konditionen hinter dem Rücken – und auf dem finanziellen Rücken! – der Bürger erworbenen Logistikzentrums. Ich erzählte von den furchtbaren Wetterkapriolen, von LKW-Staus und allerlei ökologischen und Gesundheitsschäden.
Читать дальше