Man munkelte, sie sei einmal dabei ertappt worden, wie sie mit einem Marmeladenglas einfach das Weihwasser aus dem Weihbecken der katholischen Kirche geschöpft habe. Ungeachtet dessen war ihr großes Vorbild Alice Schwarzer, der sie wie aus dem Gesicht geschnitten ähnlich sah.
Viele Licher behaupteten, diese antiquierte Dame mit ihrem selbstgestrickten giftgrünen Hosenanzug habe sich den Vornamen selbst verpasst, einfach nur aus Bewunderung für ihre feministische Favoritin. Tatsächlich, so wurde weiter gemunkelt, heiße Frau Knauer eigentlich Cäcilie mit Vornamen und benehme sich aber so, als sei sie die Zwillingsschwester von Schwarzer. Ich hatte keine Ahnung, ich konnte und wollte mich dazu nicht äußern, mich interessierte es erstmal nicht. Aber Tatsache war, dass sie wie Alice Schwarzer aussah.
Erst neulich war sie mir in der Hintergasse begegnet und ich hatte sie etwas murmeln hören, hatte sie wohl verwundert angeschaut und sie war stehen geblieben. „Ja, da wundern Sie sich. Es wird uns alle treffen. Der Schnee wird uns erdrücken! Der Wintersturm fegt uns alle hinweg! Hinweg!“
Puh, das also war meine Information, als ich den Holzschneemann gesehen und mir die idiotische Vorhersage dieser Prophezeiungsextremistin ungewollt ins Bewusstsein gerutscht war.
Nun also betraten wir das Lädchen, hinter dessen Tante-Emma-Theke die Inhaberin stand, ihre Arme sehnlichst nach uns ausgestreckt, behangen mit mehreren bunten Ketten, bekleidet mit dem für sie typischen giftgrünen Hosenanzug. Vermutlich besaß sie ihn gleich in mehrfacher Ausfertigung. Die beiden Jungs schwärmten sofort aus in die hintere Kammer zu den ausgestopften Tieren.
*
Ich denke, Sie alle, verehrte Leserinnen und Leser, kennen den südlich von unserem schönen Lich gelegenen Inheidener Badesee. Der Ort selbst ist durchaus ein unspektakuläres Dorf ohne besondere Vorkommnisse – das kann man gut oder schlecht finden. Doch eine außergewöhnliche Sache, die sich im Umfeld dieses unscheinbaren Örtchens ereignete, sorgt in einschlägigen Kreisen noch heute für Gesprächsstoff. Hierzu ist anzumerken, dass die Angelegenheit nie durch die Presse oder durch andere Medien gegangen war – allein dies ist ein Vorgang, der mich damals stutzig machte. Aber Stopp – ein einziges Presseorgan hatte doch etwas darüber geschrieben. Meiner Erinnerung nach war es die BILD.
Es ist die Geschichte von vier jungen Leuten, die im neuen Logistikzentrum arbeiteten.
Am Rande des Licher Industriegebiets, auf der Langsdorfer Höhe, waren im Sommer 2021 noch nicht allzu viele Mitarbeiter des Logistikzentrums beschäftigt. Der Hauptbetrieb sollte sich noch bis ins kommende Jahr hinein auf dem bisherigen Standort in Kassel abspielen. Erst in einem monatelangen, fließenden Übergang würde das Licher Großzentrum mit Leben und somit mit unvermeidbaren Turbulenzen erfüllt werden.
Sven und Dirk waren Freunde. Dirk war mit seinen fünfundzwanzig Jahren als Disponent bei MyClo eingestellt, nachdem ihm das Medizinstudium eine zu hohe Messlatte gesetzt und er es nach drei Semestern abgebrochen hatte. Im Konzern oblag ihm nun die Zuteilung von Ressourcen und Waren, die Einteilung der Lagermitarbeiter, studentischen Aushilfen und Staplerfahrer.
Seine Freundin Tanja war zwei Jahre jünger und arbeitete in der Buchhaltung – ebenso wie ihre gleichaltrige Freundin Nicole, die seit ihren gemeinsamen Kasseler Tagen Svens feste Freundin war. Alle vier hatten sich gemeinsam von MyClo -Kassel nach MyClo -Lich wegbeworben. Sie wollten hier die Ersten sein. Beim Neuaufbau an vorderster Front dabei sein – für einen zehnprozentigen Gehaltsaufschlag. Es hatte geklappt.
Der siebenundzwanzigjährige Sven war als einer der jüngsten Logistikmanager bei MyClo angestellt. Andere Disponenten, Fahrer, Sachbearbeiter, Lagermitarbeiter , Staplerfahrer, Buchhalter, Qualitätsbeauftragte, Werkstattleiter und weitere Mitarbeiter würden nach und nach aus Kassel dazu kommen. Keine Massenwanderung, nein, aber ein paar unvermeidliche Fachkräfte und ein kleines Heer von einhundert Handlangern auf Niedriglohnbasis. Noch herrschte kein Vollbetrieb, und so wunderte sich Sven, als er beim Einkauf im RUWE- Markt die Leute schimpfen hörte, dass LKW-Staus das Stadtbild rund um Lich beherrschten und die Luft verpesteten.
Ja, gut, es stimmte teilweise – da hatte es in den letzten Wochen vermehrt Staus gegeben; lange Schlangen von umgeleiteten Lastwagenkolonnen waren zu sehen gewesen. Aber das war nicht ihnen, sondern den Unfällen und Baustellen auf der A 5 geschuldet. Vielleicht lag es auch an irgendwelchen anderen Logistikstätten in Mittelhessen, doch Sven wusste genau, dass sein Licher Arbeitsplatz mit keinem einzigen Stau weltweit in Verbindung zu bringen war. Jedenfalls nicht im Moment. Sven war empört.
„Das hat nicht im geringsten mit unserem Logistikzentrum zu tun“, hatte Sven einer Kundin beim Anstehen an der Kasse erklärt. „Ich muss es wissen, ich arbeite da!“ Aber sie hatte ihm nicht geglaubt.
Sven und Nicole hatten oben auf Lichs Anhöhe, nahe der Asklepios-Klinik, ein Appartement angemietet, direkt neben dem von Dirk und Tanja. An jenem Abend saßen sie zusammen und Sven berichtete, was er gerade im RUWE- Markt erlebt hatte.
„Ich kann den Schwachsinn nicht mehr hören“, erregte sich Dirk. „Umweltzerstörung, Naturkatastrophen – alles soll menschengemacht sein? Und für alles sind natürlich wir verantwortlich, die Logistikbranche. Dabei gab es doch schon immer Klimakatastrophen, Stürme, Hochwasser, Dürren. Die Umwelt steht sich einfach oft selbst im Weg. Die Natur spielt von Natur aus verrückt! Ja, wollen denn die Technikfeinde und Öko-Nörgler allein von Luft und Liebe leben – oder brauchen die nicht auch etwas zwischen die Zähne?“
„Reg dich ab, Kumpel“, sagte Sven. „Wir müssen diese Freaks nicht ernst nehmen. Lasst uns den Sommer genießen, so lange er noch warm ist.“ Sven musste über seinen Scherz lachen. Denn von »warm« konnte wahrlich keine Rede sein.
„Ich würde jetzt so gerne mal schwimmen gehen“, sagte Nicole. „Picknick an einem schönen Badesee – aber das Wetter …“
„Das Wetter muss mitspielen“, wandte Tanja ein, und Nicole nickte zustimmend.
In diesem Moment musste sie an Dr. Wüsts Worte denken: „Sie müssen mitspielen!“ Er hatte es mit absoluter Bestimmtheit in der Stimme gesagt. Tanja und ihr war nicht entgangen, dass da dieser unbekannte Mann – er hieß Arturo Groß – anhand eines merkwürdig dünnen Beratervertrags ein merkwürdig hohes monatliches Beraterhonorar kassierte.
Sie schob den Gedanken beiseite. Zu oft hatte sie sich mit ihrer Freundin über diese Personalie unterhalten und was wohl passieren würde, wenn die Sache bei einer Betriebsprüfung vom Finanzamt unter die Lupe genommen würde. Wären sie persönlich vielleicht für solche krummen Dinger haftbar zu machen? Sie hatten sich vorgenommen, die Angelegenheit in der Grabeskammer ihres Kurzzeitgedächtnisses verschwinden zu lassen. Sie waren schließlich nur Buchhalterinnen.
„Ich habe letzte Woche den Inheidener See erkundet; bin eine Runde mit dem Motorrad unterwegs gewesen“, informierte Dirk die Freundesrunde. „Herrlich zum Schwimmen und mehr … da gibt es ein geiles Floß …“ Er lachte vielversprechend. Und alle freuten sich mit ihm.
„Dann also bis zum ersten schönen Sommertag!“, meinte Nicole. „Und jetzt könnten wir zur Abwechslung mal Monopoly spielen.“
Die erste und bis dahin einzige echte Sommerwoche begann am Sonntag, dem 13. Juni und endete pünktlich nach sieben Tagen. Am Dienstag, dem 15. Juni, entschlossen sich die vier Freunde recht spät zu einem Badeausflug. Es waren nur dreizehn Kilometer von Lich bis zum Inheidener See, und weil die Dämmerung im Sommer naturgemäß spät hereinbricht, gab es noch einen guten Rest Tageslicht am Himmel, als sie am See ankamen. Sie waren in Svens Golf gefahren. Sven fuhr schon nüchtern recht schnell. Wenn er getrunken hatte, raste er, als wenn ihm der Teufel im Nacken säße. Und er hatte getrunken.
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