Und so sagte ich zu Ben, während wir weiter in Richtung der Licher Brauerei schlenderten: „Vielleicht klingt es in den Ohren meiner Leser wie eine billige Ausrede. Autoren sind tatsächlich niemals um Ausreden verlegen – ebenso wie unsere Politiker, Investoren, Kassen- und Privatärzte, Logistikmanager, Kapitalanlage-, Unternehmens- und Steuerberater und …“
„… willst du wirklich die Liste fortsetzen?“, unterbrach mich mein guter Kollege.
„Ist es dir nicht zumutbar?“, fragte ich ihn.
„Es ist echt unzumutbar! Ich fasse es nicht, einfach too much!“, rief er aus.
„Siehst du!“, sagte ich triumphierend. „Genauso wenig wollte ich damals die Leser emotional überfordern. Wir dürfen nicht nur heulen. Wir müssen auch verändern. Und dazu brauchen wir Kraft. Die Kraft der Tränen und des Lachens.“
„Schreibst du wieder über die vergangene Zukunft?“
„So, oder so ähnlich“, sagte ich und ließ Ben im Ungewissen. Wir mussten beide lachen.
Was wir zu diesem Zeitpunkt wahrlich nicht wussten: Im Januar 2022 verging uns das Lachen. Es verging uns gründlich.
Wer nicht fragt, bleibt dumm.
Die Mittagspause war zu Ende. Während wir in Richtung der Altstadt zurück zum Verlagsbüro spazierten, machte mich Ben darauf aufmerksam, dass ich die beteiligten Romanfiguren nicht zu kurz kommen lassen dürfe. Nicht wenige Leser würden vielleicht überhaupt nicht wissen, wer weshalb welche Rolle bislang in der Licher Geschichte gespielt habe – aus dem einfachen Grund, weil sie die Story über die Freie Republik gar nicht gelesen hatten. Selbst die, die die Story kannten, hätten gewiss schon wegen der vergangenen Zeitspanne nicht mehr alle Namen und Zusammenhänge parat.
„Findest Du eine Aufstellung der Personen und die Erläuterung wirklich sinnvoll?“, fragte ich ihn und verzog das Gesicht.
„Mir jedenfalls würde so etwas helfen“, meinte Ben. „Ich blättere gerne mal nach vorne, um mir die Namen der wichtigsten Protagonisten und die damit zusammenhängenden Funktionen im Romangeschehen wieder einmal vor Augen zu führen.“
„Na ja, wer diesen personellen Vorspann nicht lesen will, kann die Seiten ja einfach überblättern“, gestand ich Bens Vorschlag zu, hatte aber nicht gerade ein berauschendes Gefühl, die gesamte Vorgeschichte in personeller Hinsicht noch einmal zusammenfassen zu müssen.
„Du solltest ja nur das Herausstechende und für die neue Geschichte das Nötigste hervorkramen“, sagte Ben. Er sah mir wohl meinen missmutigen Gesichtsausdruck an und klopfte mir wieder einmal ermutigend auf die Schulter.
Am gleichen Abend setzte ich mich hin und tat wie mir empfohlen.
Die Sache selbst:
Hinter dem Rücken der Licher Bürger wurde von den Stadtvätern in stiefväterlicher Weise in einem atemberaubenden Schnellverfahren und mit bösen verwaltungstechnischen Tricks die Bebauung eines naturbelassenen, supergroßen Geländes durchgepaukt. Es handelte sich um den Baugrund »Langsdorfer Höhe«. Das Gelände hieß im Volksmund seitdem Wüstenberg – benannt nach dem Immobilienhai Dr. Werner Wüst, dessen Aktiengesellschaft laut eigenen Angaben steueroptimiert für Großanleger tätig ist. (Sie dürfen ruhig recherchieren!) »Steueroptimiert« soll in diesem Zusammenhang heißen: Es fällt kein Cent für die Kommune ab, der man das Gelände abgeknöpft hat.
Die Akteure in dieser hinterfotzigen Sache:
Dr. Werner Wüst, etwa Mitte Fünfzig, ein landesweit tätiger Investor. In diesem Fall ein Immobilienunternehmer und Baulöwe, dessen Geschäftsprinzip es ist, zu billigsten Konditionen bei den willigsten Bürgermeistern Land aufzukaufen, um es zu teuren Konditionen höchst profitbringend an die an Amazon angebundenen oder amazontypischen Logistik- und Verkaufszentren weiterzuvermieten. Es ist weitaus profitabler, auf dem flachen Land von flach regierten Landeiern Land abzukaufen, als nahe der Autobahnen das Dreifache investieren zu müssen – was den Gewinn entsprechend schmälert.
Sein Großmieter ist dieses Mal die MyClo- AG des Dr. Clowalla, mit dem Dr. Wüst partnerschaftlich verbunden ist und dem er einen Mietvertrag andreht, obwohl noch keine Baugenehmigung vorliegt.
Für seine windigen Geschäfte benötigt der wüste Unternehmer eine Handvoll hauptberuflicher politischer Amateure – eine Herde kleiner Wüstlinge, die ihm, dem großen Unternehmer, Respekt und Gehorsam zollen. Das bekommt ein Draufgänger wie Dr. Wüst am besten durch Drohungen, kombiniert mit Versprechungen und Gefälligkeiten hin. Wie sonst?
Aus Sicherheitsgründen trägt er eine schusssichere Weste unter seinem langweiligen Anzug. Zu seinem bärenstarken Beschützer und Sicherheitschef auf dem Wüstenberg hat er Hulk Hogan gemacht.
Seine gefolgstreue Herde besteht aus dem Bürgermeister Arturo Groß, Anfang fünfzig, Kontaktlinsen mit bestem Sichtkontakt zu Dr. Wüst. Der Sozialdemokrat Groß ist eitel und selbstherrlich, wechselt sicherheitshalber öfter seine Sekretärinnen und lächelt im Dienst äußerst selten, und wenn, dann verbissen. Er verspricht sich von dem Deal eigene Vorteile und gaukelt der Bevölkerung und seiner eigenen Partei vor, man würde den Bürgern, der Stadtkasse und der örtlichen Kaufkraft einen Gefallen tun. Er ist ein Spezialist in Versprechungen und Prognosen – wie fast alle Politiker … und wie Werner Wüst. Pech (für die Stadt), wenn nichts von alledem eintrifft – aber dann ist er schon über alle Berge und hockt auf einem noch höher vergüteten Posten.
Jetzt braucht Wüst noch eine Figur aus anderen verwandten Gefilden. Zum Beispiel von der CDU, eine Figur, die sein Vorhaben – wie sollte es anders sein – bravourös unterstützt. Gut, wenn es eine Frau ist. Möglichst eine, die in großen wirtschaftlichen Deals unerfahren ist. Seine Wahl fällt auf Ingrid Steegher, die Erste Stadträtin. Sie tut alles, um den Deal durchzuboxen und versteht es, rechtlich klare Linien zu einer rasanten Schlangenlinie umzubiegen. Sie ermöglicht einen Kaufvertragsabschluss zu einem viel zu frühen Zeitpunkt, im September 2018, ohne Legitimation durch den Magistrat. Die Bürger wissen in jenen Tagen noch nichts von jenem ominösen Kaufvertrag.
Verwaltungsrechtlich korrekt hätte es anders laufen müssen: Die Vertreter der Bürgerschaft, die Stadtverordneten, werden ordentlich, wahrheitsgemäß und umfänglich vom Investor und dem verhandlungsführenden Bürgermeister über das Großprojekt informiert. Aufgrund dessen beschließen sie eventuell, dass ein Kaufvertrag geschlossen werden soll. Daraufhin beauftragt der Magistrat den Bürgermeister mit der Vorbereitung eines solchen. Dieser legt anschließend einen städtebaulichen Vertrag vor, in dem die Bedingungen für den Investor festgelegt werden.
Und dann erst kommt der Bebauungsplan in die Fahrspur – und zwar gemäß den Festlegungen in den vorangegangenen Verträgen. Aber es ging wie Kraut und Rüben durcheinander. Gewollt? Oder aus mangelnder Erfahrung?
Es etabliert sich eine Bürgerinitiative gegen das unsolide Vorhaben. Die Vertreter der Bürgerinitiative legen gegen dieses Kraut-und-Rüben-Verfahren sofort Beschwerde bei der Landrätin ein. Sie stellt lapidar fest: „Das kann man nachträglich heilen.“ Ein verwaltungsrechtlicher Treppenwitz.
Unterdessen macht die Erste Stadträtin gemeinsame Sache mit ihrem treuen CDU-Parteisoldaten Detlef Hofbauer, der, weil die Partei es will, als strenger Einäugiger dem städtischen Bauausschuss vorsteht und Dr. Wüst (Die Wirtschaft! Die Wirtschaft!) zu Füßen liegt.
Nun müssen nur noch, gewissermaßen im Nachhinein, die Stadtverordneten „überzeugt“ werden. Man kann nicht alle mit Gefälligkeiten bedienen. Es würde herauskommen. Mit fingierten Angaben „überzeugen“ aber kann am besten und naturgemäß ein allseits anerkannter Stadtverordnetenvorsteher. Der Stadtverordneten-Boss heißt Klaus-Dieter Lügge, ein Parteigenosse des Arturo Groß.
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