Er bugsierte den Wagen an den Schlagbaum, der die unberechtigten Fahrer davon abhielt, das Seeufer mit ihren PKW zuzuparken. Sven hatte sich in den vergangenen Tagen über den Segelclub eine Berechtigungskarte besorgt, die er in den Schlitz einschob und die ihnen nun den Weg freimachte. Um diese Zeit war niemand mehr am See, und Sven brauste mit aufgeblendetem Licht den kleinen Asphaltweg entlang, als sei er auf dem Nürburgring.
Kurz hinter dem Segelclub und »Sonjas Wurstbude« fuhr er den Wagen knapp bis an den Uferbereich und sprang hinaus, noch ehe das Gefährt völlig zum Stillstand gekommen war. Ungeduldig streifte er sich das Hemd über den Kopf und trat an den Zaun, um nach dem Floß Ausschau zu halten, das sich irgendwo auf dem See befinden musste. Inzwischen war auch Dirk etwas zögernd ausgestiegen.
Die Fahrt hierher war Dirks Idee gewesen, gewiss; allerdings hatte er nicht erwartet, dass Sven ihn beim Wort nehmen würde. Nun ja, jetzt waren sie hier. Die beiden Mädchen auf dem Rücksitz machten sich zum Aussteigen bereit.
Sven ließ seinen Blick über das Wasser schweifen, von links nach rechts, von rechts nach links. Er hat die Augen eines Scharfschützen, dachte Dirk, und der Gedanke war ihm irgendwie unangenehm.
Schließlich hatte Sven gefunden, was er suchte. „Da ist es!“, schrie er und ließ die Hand auf die Motorhaube des Golf nieder sausen. „Genau wie du gesagt hast, Dirk!“ Er lief auf den Zaun zu und schrie: „Wer als Letzter im Wasser ist, ist ein Feigling!“
„Sven…“ Dirk wollte noch etwas sagen, aber Sven hatte sich bereits über den Zaun des Segelclubs geschwungen und lief am Ufer entlang, ohne sich nach Dirk oder Tanja oder Nicole umzusehen. Er hatte nur noch Augen für das Floß, das in einer Entfernung von etwa fünfzig Metern im See verankert war.
Dirk warf einen Blick hinter sich, wo die Mädchen saßen. Er hatte das Bedürfnis, sich bei den beiden zu entschuldigen, weil er sie in so etwas reingezogen hatte. Aber die Mädchen sahen Sven nach, sie kümmerten sich gar nicht um ihn. Dass Nicole seinem Freund Sven hinterherblickte, war ganz in Ordnung, Nicole war schließlich Svens Mädchen, aber auch Tanja sah Sven nach, und Dirk verspürte so etwas wie einen Stich.
Eifersucht.
Er schälte sich aus seinem T-Shirt, legte es neben Svens Hemd und sprang über den Zaun.
„Dirk!“, rief Tanja, aber Dirk hob nur den Arm und machte eine Bewegung im Zwielicht des Sommerabends. Komm‘ schon, sollte das heißen, und Dirk hasste sich ein bisschen für die ungelenke Art, in der er es tat. Tanja war jetzt unschlüssig, ob sie das Ganze nicht abblasen sollte. Die Vorstellung, an einem späten Sommerabend in einem einsamen See herumzuschwimmen, passte so gar nicht in ihren Plan. Eigentlich wollte sie mit Dirk und Sven einen unterhaltsamen Abend in einem der Apartments nahe des Asklepios-Hügels verbringen, das die beiden Pärchen gemietet hatten. Dirk mochte sie, das war ihr klar, aber Sven war stärker als Dirk. Sie war scharf auf Sven. Es war ein verdammt irritierendes Gefühl.
Sven hatte im Laufen seine Jeans geöffnet, und irgendwie schaffte er es weiter zu rennen, während er die Hose über die schlanken Hüften streifte; es war ein Gag, den Dirk nie hinkriegen würde, und wenn er tausend Jahre übte. Sven rannte weiter, er trug jetzt nur noch seine knapp geschnittene Unterhose, das Spiel der Muskeln auf seinem Rücken und auf seinem Gesäß war zu sehen. Dirk kam sich klein und hässlich vor, als er seine Levis gleiten ließ. Was Sven vorführte, war Ballett; was er machte, waren komische Verrenkungen.
Sven sprang ins Wasser. „Kalt!“, prustete er. „Jungfrau Maria, ist das kalt!“
*
Frau Knauer sprach weniger zu mir, als zu den beiden Frauen: „Erst war es der schwarze Frühling und jetzt ist es der kalte Sommer! Und dann kommt das Eis und der Sturm! Sie sollten sich darauf vorbereiten, meine Damen.“
„Und was wird aus meiner Wenigkeit, wenn ich bescheiden fragen darf?“ Ich wollte einfach nur wissen, wie sie auf die Männerwelt zu sprechen war.
„Ihnen biete ich meinen Kräuterlikör an. Zwei Flaschen reichen über die Sturmperiode hinweg“, sagte sie mit fletschenden Zähnen, ohne mich eines Blickes zu würdigen. Dann wandte sie sich Stella zu und blätterte das Astrologie-Buch auf. Lilli schaute mit hinein, und obwohl mich solche antiken Bücher außerordentlich interessieren, wollte ich mich nicht aufdrängen. Außerdem rechnete ich damit, dass Stella das Buch sowieso kaufen würde. Also ging ich nach hinten zu den beiden Jungs.
Ich kam an einer Wand vorbei, die mit den unterschiedlichsten Bildern vollgepflastert war. Und dann sah ich das Bild, das auf dem Boden stand, angelehnt an ein Bügelbrett. Ich ging auf die Knie, und mir blieb die Luft weg. Es war ein Aquarell und in technischer Hinsicht sehr professionell gefertigt. Aber das war mir eigentlich egal. Technik interessierte mich nicht – eine Tatsache, die die Rezensenten meiner Bücher gebührend vermerkt hatten. Was mir an Kunstwerken allein zusagte, war der Inhalt. Und je beunruhigender er war, umso besser. Gegensätze, Widersprüche und scheinbar Unerklärbares zogen mich an. Auf dieser Skala lag das Bild weit oben.
Ich kniete zwischen zwei Wäschekörben, die mit einem für Knauers Lädchen typischen Wirrwarr an kleinen Gerätschaften gefüllt waren. Ich fuhr mit den Fingern über die Verglasung und warf einen kurzen Blick in die Runde, ob noch andere faszinierende Bilder mit gleicher Ausstrahlungskraft herumstanden oder an der Wand hingen. Ich konnte kein weiteres entdecken – nur die für Flohmärkte übliche Ansammlung von Kunstgegenständen: altgriechisch anmutende Gipsfiguren aus irgendeiner vergangenen Massenproduktion, Clownsfiguren mit tränenden Augen, Marionetten-Hexen auf Besenstielen reitend und in Gips gegossene Engelköpfe mit abblätternder Goldfarbe.
Ich betrachtete wieder das gerahmte Aquarell und malte mir in Gedanken schon aus, wie ich Stella überreden konnte, das Bild gleich mitzunehmen und bei uns im Flur aufzuhängen.
Es zeigte eine schneebedeckte Straße vor unserer historischen Stadtkirche. Die Bäume auf dem Kirchplatz seitlich der kleinen aber feinen Bäckerei Böhm waren mit einer dicken Schneeschicht überzogen. Die weißbeladenen Äste hingen weit herunter. Der Himmel über der Kirche und dem benachbarten Stadtturm bestand aus einer Bluterguss-farbenen Masse verschiedener Grün- und Blautöne. Und dann fiel, so schien es mir, Schnee vom Himmel. Ich richtete mich auf und trat einen Schritt zurück. Erst waren es kleine harmlose Flocken, dann aber wurde es ein Schneetreiben und ich sah nichts mehr, hörte nur noch ein Rauschen in meinen Ohren, als würde es stürmen, und dann rief einer der Jungs – ich glaube, es war Felix – nach mir.
„Stefan komm mal her. Wie gruselig …“
Die Jungs standen staunend vor einem ausgestopften Wolf, der sein Maul aufriss und seine Reißzähne zeigte. Dazwischen hing eine ausgestopfte Ratte. Ein Verdacht kroch in mir hoch. „Habt ihr die Ratte dem Wolf ins Maul gesteckt?“, fragte ich und schaute von Felix zu Jonas. Beide kicherten und mein Verdacht bestätigte sich. Einem Fuchs hatten sie den Kopf einer alten Porzellanpuppe – ich glaube, es war sogar eine recht wertvolle Käthe-Kruse-Puppe – zwischen die Zähne geklemmt.
Einem alten Besteckkasten hatten die zwei Lausebengel mehrere Kochlöffel entnommen und sie an ein Zwölfender-Geweih gehängt. In die aufklappbare Puppenstube aus den 1950er-Jahren hatten sie eine verrostete Mausefalle gestellt, die sie unter einem Beistelltisch gefunden hatten. Jungs in diesem Alter neigen zu solchen Streichen in diesen Geschäften , wenn man sie einen Moment aus den Augen lässt.
In einem weiteren Verkaufsraum hatte Frau Knauer einen übergroßen Tisch mit einer Märklin-Eisenbahnanlage aufgebaut. Felix, Jonas und ich standen davor und staunten über die vielen lebensecht gestalteten Miniaturdinge. Auf der Platte waren die Sachen jahreszeitlich arrangiert und reichten vom Frühling über Sommer und Herbst bis zum Winter. Da war ein Berg mit einer Seilbahn, in dessen Sesselliften Skifahrer saßen, zwei Skifahrer hingen absturzgefährdet und hilflos am Sessel in schwindliger Höhe über einem Wald, dessen Tannenbäume wie Stacheln eines Fakir-Brettes den Skifahrern entgegen ragten.
Читать дальше