Und nicht zu vergessen: mein Freund Benjamin Carl, früherer Vermessungsingenieur, der jetzt wie ich im gleichen Verlag arbeitete. Er engagiert sich auch im Kirchenvorstand der evangelischen Gemeinde.
Dann all jene, die einfach nur ihren Job machten:
Frau Peppler, die alte Grundschullehrerin.
Frau Fremdel, die manchmal auf die Nachbarkinder aufpasst, wenn die Eltern Überstunden machen müssen.
Carlo Mannschmitt, Mittfünfziger, Stellas Vermieter und passionierter Jäger, der ganz Lich mit Proteinen versorgte, als die Grenzen rund um uns dicht gemacht wurden. Sein neunzehnjähriger Sohn Michel, der eine Koch-Ausbildung im Landhaus Arnsburg absolvierte und Lebensmittel über die Grenze schmuggelte.
Alice Knauer, zu erkennen an ihrem selbstgestrickten giftgrünen Hosenanzug, betrieb ein merkwürdiges Trödellädchen und glaubte an seltsame Dinge – bis zu ihrem unerwarteten Ableben.
Dieter Strähle, Lagerarbeiter bei RUWE.
Es fehlen nur noch einige Medienvertreter und der Club der Unbelehrbaren. Aber das ist jetzt halb so wichtig. Ich merke, Sie werden ungeduldig. Es wird Zeit …
Endlich.
Die Geschichte beginnt.
Und denken Sie bitte daran:
Die Geschichte zählt.
Und nicht der Erzähler.
Letzter Warnhinweis:
Lesen gefährdet die Dummheit!
Als erstes fiel mir im Juni 2021 – knapp acht Monate vor dem schrecklichen Januar-Ereignis des Jahres 2022 – jener Schneemann aus Holz auf. Felix hatte ihn zusammen mit seinem Freund Jonas gezimmert. Bernardo, der Vater von Jonas, handwerklich immer am Werkeln, hatte ihnen das Holz beschafft, hatte ihnen Bau-Tipps gegeben, und Lilli, die alleinerziehende Mutter von Felix, hatte schließlich die weiße Farbe besorgt.
Warum sie mitten im Sommer einen Schneemann bauten, hatte ich die beiden sechs- und achtjährigen Jungs gefragt. Der ältere hatte geantwortet: „Schau dich mal um, Stefan! Weil es sowieso kein richtiger Sommer ist!“
Ich hatte mich umgeschaut. Der Himmel war grau und hing voller Regen, der bald niederprasseln würde.
„Und weil wir nicht wollen, dass Schneemänner immer sterben müssen“, hatte Felix ergänzt.
Und weil es im kommenden Winter heftig schneien und stürmen wird und solch ein Holzschneemann vielleicht das Extremwetter überstehen könnte, hätte ich fast hinzugefügt. Aber solche idiotischen Prophezeiungen offenbart man nicht kleinen Jungs, eher seiner Liebsten. Aber Stella, die uns, oben vom Balkon aus, zwar sehen, aber nicht verstehen konnte, hatte keinen Sinn für solch abstrusen Humor. Deshalb blieben meine Gedanken bei mir. Und bei Frau Knauer – doch dazu komme ich gleich.
Schneemänner sollen nicht immer sterben!, wiederholte ich in Gedanken die Worte von Felix. Doch der darauf folgende Gedanke knüpfte urplötzlich an einen alten Nachkriegsfilm aus dem Jahr 1959 an: »Hunde, wollt ihr ewig leben«. Der Titel war eine Anspielung auf ein Zitat von Friedrich dem Großen, der seinen fliehenden Soldaten im Zorn zugerufen hatte: „Ihr verfluchten Racker, wollt ihr denn ewig leben?“ (Kriegsherren – heutzutage auch kriegerische Frauen, die keineswegs unschickliche Kriege führen, sondern nur »Verantwortung übernehmen« – kalkulieren seit jeher fest mit dem Todes- und Opferwillen ihrer soldatischen Knechtinnen und Knechte, oder wenn sie es unbedingt in Genderdeutsch haben möchten: Mägdinnen und Mägder.)
Okay, lassen wir das. Sprachverhunzung ist das eine, und Vergangenheit ist Vergangenheit. Aber dieser Holzschneemann hier – das war für mich Zukunft. Alleine deshalb, weil die beiden Jungs ihn gebaut hatten.
Der Schneemann stand bei uns hinten auf dem großen Privatparkplatz (Nur für Mieter, ansonsten werden Sie abgeschleppt! Abgeschleppt!). Nun ja, auch im nahegelegenen Café wurde gelegentlich abgeschleppt – allerdings in gegenseitigem Einverständnis. Felix und Jonas hatten den weißgetünchten Holzschneemann unweit des Wiener Cafés aufgestellt, wobei er den vorübergehenden Cafébesuchern als Wegweiser diente. Die Kids hatten ihm in die linke Holzhand ein Stück Torte (von der Schichtung her musste es Schwarzwälder-Kirsch sein) und in die rechte eine Eiswaffel gesteckt. Ein kindliches Tribut an die Eisdiele vor unserem Wohnhaus und an das Süßmaul-Café hinter dem Parkplatz.
„Ihr solltet euer Werbegeschenk beim Café und bei der Eisdiele bekannt machen, vielleicht gibt es dafür ein kleines Dankeschön“, sagte ich.
„Das haben wir schon bekommen.“ Felix lachte schelmisch.
„Wir waren beide zuerst im Café, wo wir uns beide ein Stück Kuchen aussuchen durften“, sagte Jonas.
„Und am nächsten Tag waren wir in der Eisdiele. Da konnten wir uns zwei Kugeln Eis aussuchen. Ich habe Erdbeer- und Schokoladeneis genommen. Und Jonas suchte sich Himbeere und Maracuja aus“, sprudelte es aus Felix hervor. Wenn der Sechsjährige sprach, überschlug sich manchmal seine Stimme, denn er war bei seinen spielerischen Aktionen immer ein Vollblutakteur. Der zwei Jahre ältere Jonas war etwas zurückhaltender, und so ergänzte sich das Gespann sehr gut.
Lilli kam hinzu und auch Stella kam von oben herunter, um mit mir in das Krimskrams-Lädchen von Alice Knauer zu gehen. Sie wollte sich ein Astrologie-Buch aus der vorvorigen Jahrhundertwende 1800/1900 besorgen. Frau Knauer hatte ihr das in Schweinsleder eingebundene, abgegriffene Exemplar irgendwann einmal empfohlen, als sie über die „Evidenz von Sternzeichen“ schwadroniert hatten. Evidenz von Sternzeichen – Alice Knauers Ausdrucksweise passte sich der akademischem Ausstrahlung ihrer Kauf-Opfer an. Stella war Optikerin.
„Wenn ihr nichts dagegen habt, begleiten wir euch. »Alice und ihr Wunderland« ist für die Jungs fast wie das Horrorhouse im Disney Park“, sagte Lilli und sah uns erwartungsvoll an. Natürlich hatten wir nichts dagegen. Wir gingen gemeinsam zu Frau Knauers geheimnisvollem Lädchen. Die Jungs freuten sich höllisch. Sie hatten in den letzten Monaten bei jedem Vorübergehen ihre Nasen an der Schaufensterfront plattgedrückt. Jetzt durften sie seit langem wieder einmal hinein.
„Lockdown ist fertig“, wie Felix es ausdrückte.
Frau Knauer hatte ihr Geschäft monatelang wegen Corona geschlossen gehabt. Das Gewerbeamt hatte dafür gesorgt, weil sie ihr abgestandenes Heilwasser auch als antivirale Medizin angeboten hatte. Corona – Sie wissen schon, ein Geschäft, immer ein Verkaufsschlager, irgendwie, von Bezos und Gates über CDU/CSU-Volksvertreter bis eben hin zu Frau Knauer. Und irgendjemand hatte das Gesundheitsamt informiert, das jedoch überfordert war und der Einfachheit halber die Gewerbeaufsicht alarmierte.
„Und die finden immer einen Grund“, hatte Stella gemeint. Ich glaubte damals, dass Stella gelegentlich mit dem Heilwasser und dessen angeblicher Wirkung liebäugelte. Nur ich stand wohl zwischen dem Wasser und ihr. Frau Knauer hätte es ihr wahrscheinlich für viel Geld längst angedreht. Ich bin noch heute der Überzeugung, dass Stella sich hätte überreden lassen, wenn Alice Knauer behauptet hätte, das Heilwasser ersetze die Impfung. Doch bevor ich darüber weiter sinniere, und Sie und mich vielleicht in die Verlegenheit bringe, über Sinn und Zweck der Corona-Impfung zu spekulieren, breche ich die Gedanken, die damals die Welt bewegten, ab.
Frau Knauers offiziell als »Antiquitätengeschäft« ausgewiesener Laden hieß nur „Das Lädchen“. Die Frau war stadtbekannt und komisch. Sie betrieb den vergammelt anmutenden Laden in einer der kleinen versteckten Gassen in der Altstadt. Hier verkaufte sie allerlei kuriose Antiquitäten, ausgestopfte Tiere, selbstgebrauten Wein aus Brennnesseln, versetzt mit angeblichem Propolis, Gläser mit eingelegten Insekten, Knollen und Blättern sowie das erwähnte abgestandene Wasser als Heilmittel.
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