1 ...7 8 9 11 12 13 ...22 Das Zitat zeigt: Soziale Arbeit wird über sozialstaatliche Handlungsprogramme in politische Zielsetzungen eingebunden, die potenziell in Widerspruch zu ihrem Selbstverständnis treten können (vgl. auch Bitzan & Bolay 2017, S. 24f.). Ob es ein einheitliches Selbstverständnis gibt, ist allerdings fraglich. Berührt werden aber professionsethische Fragen (
Kap. 1.5.1).
Sofern Sozialleistungen (z. B. Hilfen für wohnungslose Menschen) durch privat-gemeinnützige oder privat-gewerbliche Träger als »Leistungserbringer« ausgeführt werden, führen sie diese Aufgabe nicht nur unter Beachtung gesetzlicher Zielvorgaben durch, sondern auch auf der Grundlage umfangreicher vertraglicher Regulierungen, die ab Mitte der 1990er Jahre sukzessive durch das Leistungsrecht vorgeschrieben wurden.
Die Einbindung Sozialer Arbeit in den Sozialstaat kommt auch darin zum Ausdruck, dass Soziale Arbeit nicht nur dem Bedarf der*des Einzelnen an Beratung und Unterstützung gegenüber verpflichtet ist, sondern im Interesse der Allgemeinheit auch Kontrollfunktionen gegenüber Individuen und Gruppen ausübt (
Kap. 1.4.2 1.4.2 Soziale Arbeit als soziale Kontrolle Bis hierin sind wir im Wesentlichen davon ausgegangen, dass die Kernaufgabe Sozialer Arbeit darin liegt, Menschen bei der Bewältigung belastender und überfordernder Lebenslagen zu unterstützen. Diese Hauptfunktion, das Hilfemandat, beruht auf Grundentscheidungen der Verfassung, die mit Begriffen wie Menschenwürde, freie Entfaltung der Persönlichkeit, dem Gleichheitsgebot und dem Sozialstaatsprinzip verbunden sind ( Kap. 5.1.2: Weitere Verfassungsprinzipien). Gegenstand der personenbezogenen Dienstleistungen sind aber nicht alleine individuelle, wie auch immer entstandene »Notlagen«, sondern auch – so bereits die Feststellung in Kapitel 1.3.2 – diverse Formen abweichenden Verhaltens (z. B. innerfamiliäre Gewalt). Abweichendes Verhalten ist zumeist kein Problem für die Person, die sich abweichend verhält, sondern ein Problem für ihre soziale Umgebung und die Gesellschaft insgesamt einschließlich ihrer Rechtsordnung. Wenn Sozialfachkräfte im Zusammenhang abweichenden Verhaltens tätig werden, geht es folglich nicht um ein Hilfebedürfnis der*des Einzelnen, sondern um das Interesse der Allgemeinheit, bestimmte Formen der individuellen Lebensführung nicht zu tolerieren. Die Tatsache, dass personenbezogene soziale Dienstleistungen einen zweifachen Adressaten haben (können), bezeichnet man als »Doppeltes Mandat« der Sozialen Arbeit (zuerst Böhnisch & Lösch 1973). Doppeltes Mandat bedeutet: Soziale Arbeit steht Menschen nicht nur bei, sie tritt ihnen auch als Repräsentantin der Gesellschaft gegenüber.
).
Soziale Arbeit verfügt Galuske (2013, S. 40) zufolge auf der Makroebene über keinen Aufgabenbereich, der sie eindeutig von anderen gesellschaftlichen Institutionen wie der Familie oder der Schule abgrenzt. Soziale Arbeit sei stattdessen mehr und mehr in diese Institutionen vorgedrungen. Es falle schwer, noch Problembereiche zu benennen, in denen heute keine Sozialarbeiter*innen tätig seien. Diese offensichtliche Allzuständigkeit wiederhole sich auf der Mikroebene des alltäglichen Handelns. Augenscheinlich befasst sich Soziale Arbeit in ihrer tagtäglichen Praxis mit der ganzen Bandbreite von Anforderungen und Problemstellungen, die das Leben von Menschen hergibt. In der Zusammenarbeit mit stärker spezialisierten Professionen (Lehrer*innen, Psycholog*innen, Ärzt*innen, Pfarrer*innen, Heilpädagog*innen, Therapeut*innen) könne es für die Soziale Arbeit schwer sein, deutlich zu machen, worin genau ihr Kompetenzprofil – auch in Abgrenzung zu engagierter Laientätigkeit – liegt. Aus einem klaren Kompetenzprofil könnte sie viel leichter berufliches Ansehen und den Anspruch auf eine vergleichbare Bezahlung ableiten (z. B. in der Schulsozialarbeit gegenüber Lehrer*innen). Aus Sicht anderer, meist statushöherer Professionen ist die Soziale Arbeit lediglich negativ bestimmt: Sie ist für den ›Rest‹ an Aufgaben zuständig, die nach Abzug der jeweiligen Expert*innenleistungen verbleiben, z. B. für den gewöhnlichen Alltag der Jugendlichen in der Heimerziehung. Dabei ist es – so Galuske (2013, S. 43) – »gerade dieser Alltag (…), für den und in dem gelernt werden soll und muss.«
Die Bewältigung der Anforderungen des Alltags ist keine ›Restgröße‹ sozialer Interventionen, sondern das Haupt- und Zielfeld, dessen Wirkungspotenzial im Bedarfsfalle durch die Zuarbeit der ›Spezialist*innen‹ unterstützt und erweitert werden muss.
In komplexen Handlungssituationen mit multipler Problemstruktur und hoher wechselseitiger Abhängigkeit der Einzelprobleme kann die Offenheit der Zuständigkeiten allerdings zu überhöhten Erwartungen an sich selbst und damit zu individueller Überforderung führen (»Burnout«, vgl. Kitze 2021). Diese Gefahr wird dann forciert, wenn Sozialarbeiter*innen die Zuständigkeit für das Erkennen von Problemen mit deren Bearbeitung gleichsetzen, anstatt letztere dafür ausgebildeten Spezialist*innen zu überlassen und sich selbst in die Rolle einer fallzuständigen Koordinatorin zu begeben (vgl. Heiner 2010, S. 476f.).
Auf der Positivseite erlaubt der geringe Spezialisierungsgrad Sozialer Arbeit (Allzuständigkeit) eine ganzheitliche Sicht auf die Problemlagen der Adressat*innen (
Kap. 2.2). Diese verspricht grundsätzlich eine angemessenere Problemlösung als der ausschnitthafte Blick von Spezialist*innen.
Es macht keinen Sinn, für einen schlechten Schüler allein eine Hausaufgabenhilfe zu organisieren, wenn seine Leistungsdefizite in den konflikthaften familiären Verhältnissen gründen und seine Leistungsmotivation durch sein erworbenes geringes Selbstwertgefühl und durch die Vielzahl der schulischen Misserfolgserlebnisse zusammengebrochen ist.
Eine ganzheitliche Betrachtung von Problemsituationen dringt auf der anderen Seite aber womöglich umfassend in das Leben und die Persönlichkeit von Menschen ein. Da es Soziale Arbeit mit komplexen Problemlagen zu tun hat (s. o.), besteht ein hoher Informationsbedarf. Der Grat zwischen einer Hilfe, die auf Einsichtigkeit angewiesen ist, und staatlicher Kontrolle, die in das Leben des*der Einzelnen ausufernd eingreift, ist nur schmal.
1.3.3 Einzelfallorientierung und Technologiedefizit
Personenbezogene Dienstleistungen müssen auf den Einzelfall zugeschnitten werden und weisen deshalb nur einen geringen Grad an Standardisierbarkeit auf.
Die Tatsache, dass zwei alleinerziehende Väter sich durch die Verhaltensauffälligkeit ihres Sohnes in einer vergleichbaren Problemlage befinden, macht die Fälle nicht gleich. Die Väter sind ebenso wenig dieselben wie die Kinder. Der Hintergrund der Auffälligkeit kann verschieden sein. In dem einen Fall können Lösungsmöglichkeiten bestehen, die in dem anderen Fall ausscheiden. Ein Kommunikationsstil, der bei einem Vater aus der Mittelschicht angezeigt sein kann, kann auf einen anderen Vater befremdlich wirken.
Dienstleistungen der Sozialen Arbeit sind Unikate, die sich situativ an den jeweiligen Fall (Einzelfall, Gruppe, Gemeinwesen) und seinen Verlauf anpassen müssen. Erforderlich ist ein hohes Maß an fallbezogenem Verstehen und an kommunikativer Kompetenz, die nicht in antrainierte Gesprächstechniken ausweichen kann. Das Strukturmerkmal der Nichtstandardisierbarkeit stellt einerseits ein grundlegendes Handlungsproblem dar, begründet andererseits aber auch den Status Sozialer Arbeit als Profession (Hochuli Freund & Stotz 2021, S. 56).
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