All das wusste Marmel, doch sie ahnte nicht, ob der Schamane sich daran gehalten hatte. Sicher nicht. Er hatte sie nicht einmal um Erlaubnis gebeten. Marmel knüllte das Taschentuch zusammen. Sie ballte die Hand zur Faust, ihr Mund war schmal wie ein Strich.
»Herr Armin, ich fühle mich so schlecht. Ich sehe alles so, so. Och, mir fällt das Wort nicht ein. Eben so«, sagte sie unglücklich. Die Spiegelscherben auf dem Bett weckten das schlechte Gewissen in ihr, aber nur ein bisschen. Sie streckte dem Schamanen die Faust entgegen und schüttelte sie. »Du hast mich nicht gefragt! Ich wollte keine Nähte auf dem Kopf! Ganz sicher nicht. Herr Leopold das war, das war. Du weißt schon was!«
Der Ritter half Marmel weiter.
»Das war unredlich!« Er drückte dem Schamanen bedrohlich dicht die Hähnchenkeule unter die Nase. »Ich habe schon viel mit dir erlebt. Aber was du diesmal getan hast, ist der Höhepunkt. Ich sollte dich hier und jetzt mit der Keule niederschlagen!«
»Bitte nicht, Armin. Denk daran wie lange wir gute Freunde sind«, japste der Graf. »Marmel, entschuldige, dass ich dich nicht fragte. Aber du hast ja geschlafen. Ich sah, welche Krankheit du hattest, und ich wusste wie ich dich davon kurieren konnte. Also heilte ich dich. Das ist meine Aufgabe als Schamane. Und in aller Bescheidenheit, ich bin ein guter Schamane. Nachdem du gestorben bist, habe ich dich gleich wiederbelebt. In ein paar Tagen bist du wieder quietschfidel. Ich habe sogar dein Gehirnstück in einem Einmachglas aufgehoben. Du darfst es jederzeit besichtigen.«
Marmels Augen weiteten sich, und der Ritter brüllte entsetzt:
»Was muss ich da hören? Du hast aus Marmel eine Zombiene gemacht?«
Leopold hob das Kinn und versuchte, der Keule elegant zu entkommen.
»Nein, nein. Sie ist nicht tot.«
»Ja, sage ich doch, eine Untote!«, donnerte Armin.
Zweistiefel beobachtete den Streit gleichgültig. Ihm war viel wichtiger, dass sein Magen gut gefüllt war. Der Knappe knabberte am kläglichen Rest der Brotstange und ahnte, dass er bald nichts mehr zu beißen hätte.
»Wollt ihr euch noch lange zanken? Dann gehe ich jetzt zurück an den Esstisch und nehme Marmel mit«, schmatzte er gelangweilt.
Marmel sah verdattert zu Zweistiefel, der eine ganze Stange Brot vertilgt hatte und immer noch an Essen dachte. Dann blickte sie zu Armin, der den Schamanen mit einer Hähnchenkeule bedrohte. Dazwischen das Himmelbett im Vorratsraum. Der Anblick war zu komisch. Marmel vergaß all ihren Groll und lachte laut los.
»Ja, das ist eine gute Idee, Zweistiefel. Ich habe Hunger, aber nicht auf Menschenfleisch und Gehirn, wie ein Zombie!«
Leopold von Leafburgh schnippte die Hähnchenkeule zur Seite.
»Na, hast du gehört, Armin? Das Mädchen hat Hunger. Das ist ein gutes Zeichen, jawohl, ja. Welch ein glücklicher Zufall, dass ich für dich und Zweistiefel eine warme Mahlzeit zubereitet habe. Ich hoffe, ihr habt etwas übrig gelassen. Komm Marmel, wir sehen einmal nach.«
Marmel konnte kaum mit dem Lachen aufhören, kicherte hinter vorgehaltener Hand und nickte. Als sie aus dem Bett kletterte, grinste sie immer noch. Die Samtdecke band sie um ihre Schultern, in dem Burgkeller war es sehr frisch und sie trug nur ihren Schlafanzug, den sie angezogen hatte, als sie Zuhause ins Bett gegangen war. Marmel tapste unsicher neben dem Schamanen. Die Umgebung erkannte sie nur undeutlich, und ihre Beine fühlten sich schwach an. Hinter ihr schleifte die rote Bettdecke wie eine königliche Schleppe über den Boden, der Zweistiefel und Armin folgten, wie ein seltsamer Hofstaat, der zu der Königsschleppe gehörte. Leopold von Leafburgh öffnete eine schwere Holztür und mit einer schwungvollen Geste bat er Marmel herein.
»Willkommen in meinem Kaminzimmer, bitte tritt ein.«
Vorsichtig lugte Marmel ins Zimmer, sie entdeckte Sattel, der vor einer Schüssel mit rostigen Nägeln schwebte. Er drehte sich, verharrte, als ob er zu Marmel schaute, dann wandte sich wieder der Schüssel zu. Ein Happen Rostnägel löste sich in Luft auf. Marmel runzelte die Stirn. Ein eisenfressendes Pferd? Irgendwann würde sie herausfinden, worauf der Sattel lag. Aber nicht jetzt, ihr Magen knurrte. Längs durch den Raum erstreckte sich ein dunkelbraun glänzender Tisch, er reichte fast von der vorderen bis zur hinteren Wand. Jeder Fleck der Tischplatte war bedeckt mit feinen Platten, Schüsseln und Tellern voller Essen und silbernen Kerzenleuchtern. Kunstvoll geschnitzte Lehnstühle standen an der reichlich gedeckten Tafel. Marmels Appetit war groß, die Spucke tropfte ihr fast aus dem Mund. Sie ließ sich auf einem der vornehmen Sitze fallen und griff mit jeder Hand in die Schüsseln. Auf ihrem Teller wuchs ein Berg aus Kartoffelbrei, Bratferkelscheiben, Preiselbeeren, Käse, Schokoladenpudding, Apfelkuchen, Weintrauben, Zimtsterne, Pistazien und Vanillesoße. Marmel griff nach einem Holzlöffel und schaufelte all die Köstlichkeiten in sich hinein. Ihre Backen waren gut gefüllt wie Hamsterbacken, als Leopold, Armin und Zweistiefel am Tisch ankamen.
Keiner nahm ihr die schlechten Manieren übel, denn sie kannten andere Tischmanieren. Auf Jagomus schlug man Purzelbäume durch die Suppe, um das Haar darin zu finden. Für ein blumiges Bouquet warf der Kellner einen Blumenstrauß in den Wein. Oder man furzte mal kräftig auf einen Pfannkuchen, wenn man ihn flambieren wollte. Während Armin vom Schwalbenacker und Zweistiefel aßen, flog die gute Speise in alle Richtungen. Marmel staunte, wie weit der Ritter einen Fischkopf spucken konnte. Sattel schwebte um den Tisch herum, er suchte die Essensreste, schmatzte über ihnen und ließ die Reste verschwinden. Auf seine Weise aß jeder, bis er satt war. Zweistiefel und Armin sah man den gefüllten Bauch sehr deutlich an. Der Ritter rülpste, sein Knappe lümmelte sich kugelrund auf dem Stuhl. Der Schamane tupfte sich vornehm mit einer Stoffserviette den Mund ab, im Kamin knisterte gemütlich das Feuer und Marmel fühlte sich viel wohler. Sie baumelte mit den Beinen und wunderte sich über die komische Inneneinrichtung. Die Möbel waren edel und antik, wie für einen Festsaal gemacht. Wie auch das protzige Tierfell vor dem Kamin, die goldgerahmten Gemälde an den Wänden, allesamt zeigten sie Gesichter von gut frisierten Leuten. In einer Ecke wachte eine polierte Ritterrüstung.
Zwischen den Bildern hingen bunt bemalte Masken, Tafeln, an die Käfer und Schmetterlinge gepinnt waren, neben der Rüstung stand ein mannshohes Steingesicht, das zu einem Totempfahl blickte. Fleischfressende Pflanzen mit Mäulern, so groß wie Löwenköpfe, dekorierten den Raum, und auf dem Kaminsims ruhte ein Schrumpfkopf. Versonnen lutschte Marmel den Schokoladenpudding vom Löffel und betrachtete die seltsamen Gegenstände.
»Danke für das Essen Herr Leopold, das war lecker. Das Kaminzimmer sieht wirklich toll aus. Wo kommen all die Dinge her? Bist du nun ein Graf oder ein Schamane und warum wohnst du in einem Keller?«, fragte sie.
»Vielen Dank, vielen Dank, du bist wundervoll freundlich. Betrachte die Mahlzeit als Stärkungsmittel«, strahlte Leopold. »Du stellst gute Fragen, wo soll ich da nur anfangen? Zuerst bin ich Graf, neun Riesenlatschen Land sind mein Eigen und dies sind die Kellergewölbe meiner Burg. Eines Tages hörte ich von den fernen Nebeltälern. Ich reiste dorthin, um sie zu erforschen. Ich muss sagen, ein sehr interessantes Gebiet. Ich habe viele Mitbringsel für meine Burg gefunden und in einem Tal traf ich einen Schamanen. Ich war lange Zeit sein Gast, und ich lernte von ihm, bis ich selber ein Schamane war. Nachdem ich alle Nebeltäler erkundet hatte, kehrte ich heim. Doch meine geliebte Burg war wie vom Erdboden verschwunden. Alles ist weg, ich suche heute noch das Silberbesteck. Weißt du, es ist ein altes Erbstück. Ich bin mir sicher, das Besteck liegt irgendwo im Verlies. Wenn ich es nur finden würde. Deshalb wohne ich im Keller, damit ich das Silberbesteck jederzeit suchen kann.«
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