YOHO
oder
Das Geheimnis des Unsichtbaren
Andrea Schatz
Impressum
YOHO oder das Geheimnis des Unsichtbaren
Andrea SchatzGottlob-Hauser-Str. 11 72348 Rosenfeld andrea-schatz@t-online.de
Copyright © 2016 Andrea Schatz
1. Auflage 2016
Verlag: epubli www.epubli.de
Konvertierung: Andrea Fritz www.ebooktreibhaus.de
Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek
Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.deabrufbar.
Inhaltsverzeichnis
Juli 2016
Als alles begann (02-03/2015)
Klinikaufenthalt (03/2015)
Home sweet Home (04/2015)
Don’t worry – be happy (05/2015)
Auf zur Premiere! Chemo 1 (05/2015)
Die Hälfte der Hälfte: Chemo 2 (06/2015)
Immer rein in die gute Stube! Chemo 3 (07/2015)
Halbzeitpfiff! Chemo 4 (07/2015)
Nummer fünf lebt! Chemo 5 (08/2015)
666, The Number of the Beast: Chemo 6 (09/2015)
Chai: Chemo 7 (09/2015)
Das achte Weltwunder: Chemo 8 (10/2015)
Nach der Chemotherapie ist vor der Strahlentherapie (10-11/2015)
Bestrahlungen 1 bis 33 (11-12/2015)
Süßer die Glocken … (12/2015)
Jahreswechsel 2015/2016
Anschlussheilbehandlung (Reha) und Reset (01/2016)
August 2016
Schlusswort
Morgen Abend gehe ich mit meiner Freundin essen. Gestern und heute habe ich mir frische Salatzutaten klein geschnippelt und das Ganze jeweils mit getoastetem Kräuterbutterbrot verdrückt, einmal in der Variante „mit geräuchertem Fisch“ und einmal „mit Oliven mediterran“. Davor habe ich mit meiner Mutter Kaffee getrunken. Davor habe ich meinen Rucksack und ein paar Wanderutensilien für die Wochenendtour nach Österreich zusammengesucht. Davor habe ich Bewerbungen geschrieben. Ach ja, gestern habe ich Sport getrieben und werde das morgen auch tun, bevor ich eventuell weitere Bewerbungen schreibe, Wäsche zusammenlege, einkaufen gehe und – nein, kochen brauche ich dann ja nichts. Wie schön.
Langweilige Abfolge? Genau! Ich schreibe Bewerbungen, treibe Sport, lese, koche, trage Wäsche hin und her, gehe einkaufen, kümmere mich um viele kleine Dinge. Ebenfalls habe ich regelmäßige Verabredungen, die natürlich nicht langweilig sind, und ebenso häufige Arzttermine, die aber bald weniger werden. Ab und zu mache ich eine kurze Reise. Ich lese, ich schreibe. Für all diese Dinge habe ich genügend Zeit. Die zahlreichen Auswahlmöglichkeiten, meinen Tag zu gestalten, ohne dabei Arbeitszeitenregelungen oder Feierabendtermine berücksichtigen zu müssen, sind Zeichen eines Zustands, nach dem ich mich lange gesehnt habe und um den ich sicherlich auch beneidet werde: Freiheit! Und nun behaupte ich: langweilig! Nicht dass mir wirklich langweilig wäre, ich bin gut beschäftigt und gehe meist gutgelaunt durch den Tag. Aber irgendwie stehe ich außerhalb des Geschehens und suche nach Inhalt. Klar, ich könnte ein Buch schreiben, meine Jobsuche intensivieren, ein Studium beginnen und nebenher jobben, eine super Hausfrau werden, mich selbständig machen, ein Biogemüsebeet anbauen, mich stärker als bisher in einer NGO engagieren, etwas Kreatives lernen. Aber das alles ist es nicht, oder es ist zu viel, oder, oder, oder. Mir fehlt eine Aufgabe, bei der mein Tun Bestätigung findet.
So sieht also mein Seelenzustand nach eineinhalb Jahren Arbeitspause aus. Ich war fast ein Workaholic und war anschließend total überrascht, wie schnell ich Abstand zu meinem Berufsleben fand. Jetzt arbeite ich daran, wieder zu jener Welt zu gehören. Das hätte ich so nicht erwartet, oder wenigstens nicht so schnell.
Manchmal kommen auch zu viele Termine zusammen, und ich fühle mich nicht gerade gestresst, bin aber froh, dass ich mich danach wieder ausruhen kann. Immerhin spüre ich noch die Nachwehen einer anstrengenden Therapie in Form von Vergesslichkeit und dem Gefühl, dass manche Dinge anstrengender sind als zuvor. Am Alter allein kann das nicht liegen … Doch ich bleibe dabei: Die Fülle der Möglichkeiten wirkt erschlagend, ich spüre keine grundsätzliche Motivation für die Dinge; ich tue sie einfach, lasse mich treiben, um mangels einer wirklichen Aufgabe irgendwie beschäftigt zu sein, und für teure Selbstverwirklichungstrips wie ausgedehnte Reisen oder Mega-Events in den Bereichen Kunst, Kultur und Bildung reicht es finanziell sowieso nicht. Ich lebe in einer Art Korsett, habe gleichzeitig zu wenig und zu viel Spielraum. Was also tun?
Meine Ra(s)tlosigkeit lässt mich mit Aufräumarbeiten am Computer beginnen, und hier stoße ich auf meine Aufzeichnungen aus dem Jahr 2015. Die tagebuchartigen Einträge beginnen mit der vielversprechenden Aussage Die Fülle der alltäglichen Erlebnisse macht aus unserem Leben ein einziges großes Abenteuer. Es lebe die Schöpfung. – Stop, woher habe ich denn das? Ich kann kaum glauben, dass ich mir vor nicht allzu langer Zeit solch einen beglückenden Satz einfallen ließ, während ich momentan vor Unentschlossenheit fast vergehe und mich auf nichts wirklich konzentriere.
Es ist wohl das Beste, der Reihe nach zu erzählen … sei es als reine Meditationsübung, als bereinigender Rückblick oder – ein schöner Gedanke – als Ermutigung für Menschen, denen Ähnliches widerfahren ist, denn im Februar 2015 bekam ich die Diagnose „Brustkrebs“ vor den Latz geknallt. Und ich hatte wider Erwarten eine gute Zeit damit.
Als alles begann (02-03/2015)
Nach reiflicher Überlegung hatte ich mich dazu entschlossen, meinen Job aufzugeben. Die Entscheidung fiel mir nicht leicht, doch mein alter Vorsatz, mich zu verändern, wenn ich „einmal auf die 50 zugehe“, koinzidierte mit einem bereits einige Zeit andauernden Zustand der Überarbeitung. Gespräche waren geführt, Möglichkeiten ausgelotet, im Privatleben diskutiert worden. Ich würde mir eine Teilzeitbeschäftigung suchen und mich parallel über die Möglichkeiten zur Finanzierung eines alten Traums informieren, der Aufnahme eines Romanistikstudiums an der Universität. Dazu hatte ich ein halbes Jahr Zeit, so lange lief mein Arbeitsvertrag. Ich würde meine Aufgaben ordentlich übergeben, wollte einen „guten Abgang machen“ und vereinbarte parallel dazu, wie in jedem Frühjahr, Termine für einige Vorsorgeuntersuchungen. Vorsorge beim Zahnarzt – ok. Vorsorge bei der Frauenärztin – ok. Check-up beim Hausarzt – ok. Danach Zeit für die beiden gebuchten Kurse bei der Volkshochschule, Antike Kulturen und Grundlagen der Philosophie von Descartes. So dachte ich mir das.
Von der gynäkologischen Praxis wurde ich zwecks Abklärung einer Auffälligkeit in der rechten Brust zur Mammographie geschickt. Meiner Ansicht nach handelte es sich wie bereits öfter um eine harmlose Zyste, die mit Flüssigkeit gefüllt war und erfahrungsgemäß mit der Zeit wieder verschwinden würde. Die Mammographie ergab einen „unauffälligen mammographischen Befund bei dichtem Drüsengewebe“ mit der Bezeichnung BI-RADS 0. Das heißt Breast Imaging Reporting and Data System mit einer Codierung von 1 bis 5, wobei 1 unauffällig und 2 gutartig war. 0 war also gar nichts. Um auf Nummer sicher zu gehen, bekam ich einen Termin zur Stanzbiopsie, um das Gewebe untersuchen zu lassen. Mir sollte es recht sein, ich nahm meine Vorsorgetermine schließlich ernst. Über die entnommenen „Würmchen“, bezeichnet als sechs grau-gelbe Stanzzylinder, musste ich schmunzeln.
Zwei Wochen nach meiner Kündigung erhielt ich einen Anruf aus der Frauenarztpraxis. Die entnommene Gewebeprobe war bösartig. Ich stand mit dem Mobiltelefon am Ohr regungslos im Besprechungszimmer und spürte förmlich, wie das unheimliche Wort in mich einsickerte wie schwere Tinte in Löschpapier. Die Nachricht war weder schlimm noch schockierend, sie war surreal, betraf nicht mich, sondern die neben mir, mein anderes Ich. Ich hatte die Gewebeprobe nicht ernst genommen – die ganze Zeit war ich mir sicher gewesen, dass die bei der Vorsorge nicht als flüssigkeitsgefüllte Zyste, sondern als zackiges Etwas definierte Stelle sich als harmlos erweisen würde. Mit keinem Gedanken hatte ich die Möglichkeit einer schlechten Nachricht in Erwägung gezogen, die mich von meinen Zukunftsplänen abhalten könnte.
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