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Es fällt mir schwer, mich auf den Artikel vom Tag der Deutschen Einheit am Erntedankfest zu konzentrieren. Für eine goldene »Ernte« danken zu können, wäre Fabian von Heimfeld natürlich am liebsten gewesen. Wäre er mit einem Finderlohn zufrieden gewesen und hätte er es nicht so dumm angestellt, wäre dies ja auch gelungen. So ist das mit den Möglichkeiten – manchmal versaut man sie sich selbst.
Schade, dass ich der Schatz-Geschichte gestern nicht weiter nachgehen konnte. Wegen eines Corona-Ausfalls fehlte »Feldpersonal«, wie unser Chef uns Journalisten nennt. Ich war deshalb noch bei der Vorstandswahl eines Schützenvereins, der Einweihung eines Kindergartens und am Abend in einem Konzert mit Orgel und Violine. Als ich meine Artikel endlich fertig und abgeschickt hatte, war Maren längst von der Schicht zurück und bereits zu Bett gegangen.
Jetzt bin ich umso gespannter, was die Recherche in Sachen »Schatz im Acker« bringen wird. Auf die Bezeichnung komme ich, weil Maren mir beim Frühstück das von Jesus erzählte Gleichnis aus dem Evangelium nach Matthäus vorgelesen hat:
»Mit dem Himmelreich ist es wie mit einem Schatz, der in einem Acker vergraben war. Ein Mann entdeckte ihn, grub ihn aber wieder ein. Und in seiner Freude verkaufte er alles, was er besaß, und kaufte den Acker.«
Maren hatte gemeint, diesen Schatz hebt man nur, wenn man ihn entdeckt, sich riesig darüber freut und dann wie selbstverständlich alles dafür einsetzt. Der Finder im Gleichnis war vermutlich ein Tagelöhner. Um damals rechtssicher an den Schatz zu kommen, musste er den Acker kaufen, auf dem sich dieser befand. Dafür seinen gesamten Besitz einzusetzen, wäre natürlich Blödsinn und viel zu riskant – es sei denn, er hat den Schatz mit eigenen Augen gesehen und er weiß, dass er viel, viel mehr kriegt, als er einsetzt.
»So ist das auch mit dem Himmel und mit Jesus Christus«, hatte Maren behauptet. »Etwas Besseres, als daran zu glauben und damit verbunden zu sein, gibt es nicht!«
Noch vor Jahren hätte sich das in meinen Ohren wie frommes Geschwafel angehört, inzwischen weiß ich, dass es stimmt. Wer entdeckt, worum es im christlichen Glauben wirklich geht und diesen »Schatz« findet, der oder die ist bereit, dafür alles einzusetzen. Okay, nun aber geht es hier nicht um Jesus und den Himmel, sondern um ganz und gar »irdisch Gut«, um zwei Säcke oder Pakete mit Gold.
Es ist zehn Uhr. Ich steige den »Affenfelsen« hinauf. So nennen Einheimische die Betontreppe am Rathaus der Samtgemeinde. Vor vielen Jahren gab es im Keller des schmucklosen, aber zweckmäßigen Betonkomplexes eine Eisdiele.
»Aldo« war damals ein Zauberwort für Jugendliche, Familien, Biker, Radwanderer und alle Freunde italienischer Eissorten. Auf der breiten Treppe hinunter in den Sitzbereich zur Eisdiele traf man und klönte, küsste sich, diskutierte und schleckte vor allem sein Eis. Wenn es voll war, saßen die jungen Leute auch auf der Treppe zum ersten Stockwerk. Wie auf einem »Affenfelsen« eben ...
Die Tür zum Bürotrakt öffnet sich automatisch. Alles ist sauber, der Teppich frisch gesaugt. Hinter einer Glastür sitzen zwei Frauen und ein Mann in einem großen Büro an ihren Schreibtischen. Ich klopfe. Eine junge Frau kommt an die Tür, bittet mich herein und fragt nach meinem Anliegen. Freundlich sind sie jedenfalls in diesem »Bürgerbüro«.
»Ich suche einen Ihrer Mitarbeiter«, sage ich und beobachte, so gut es geht, die Minen der drei. »Tobias Bahn.«
Ich habe die Aufmerksamkeit aller drei. Die ältere Frau erhebt sich und kommt auf mich zu. Ich schätze sie auf knapp sechzig. Sie trägt ein knielanges dunkelblaues Kostüm und ihre grauen Haare kurz.
»Darf ich fragen, wer Sie sind?«
Ich zücke meinen Presseausweis.
»Ich komme vom Kreisblatt. Ein Landwirt aus der Region hat angeblich einen besonderen Fund gemacht. Ihr Kollege Tobias Bahn müsste mehr darüber wissen.«
Die Minen aller drei Kollegen verfinstern sich. Die Frau vor mir schaut mich an als wolle ich ihr etwas antun und sie müsse ihren Panzer anlegen.
»Der ist nicht da. Hat Ihnen dieser von Irgendwas also auch den Floh vom Schatz ins Ohr gesetzt?«
»Fabian von Heimfeld heißt der Mann. Und er ist Mitglied Ihrer Samtgemeinde und Steuerzahler.«
»Aber er ist auch unverschämt und hat unserem Kollegen Bahn extrem gemeine Unterstellungen angehängt.« Der Mann mischt sich ein. Er ist etwa dreißig, hat sich die dunklen, sorgfältig frisierten Haare nach hinten gekämmt und trägt Jeans, Hemd und Strickjacke.
»Ich war nicht da, als dieser von Heimfeld hier war. Aber meine Kolleginnen haben berichtet, was der Mann behauptet hat. Ich sage Ihnen, dass Tobias sich diesen ominösen Schatz einfach unter den Nagel gerissen hat, ist absolut nicht möglich. Er war schon Verwaltungs-Lehrling hier. Wir kennen und schätzen ihn.«
»Aber jetzt ist er nicht da.«
Die Frau nickt. »Das stimmt. Wir machen uns ein bisschen Sorgen. Er hatte bis Sonntag Urlaub und war mit seinem Freund auf Mallorca. So jedenfalls hat er es in einer Mail geschrieben. Vielleicht ist der Flieger ausgefallen oder sie mussten wegen einer Corona-Infektion in Quarantäne. Das kommt ja vor. Mallorca war Hochrisikogebiet.«
»Ja, das kommt vor. Haben Sie denn Kontakt mit seinem Freund aufgenommen? Wissen Sie überhaupt, wer er ist?«
»Beides nein. Wir wissen nur, was er in der Mail geschrieben hat.«
»Darf ich die Mail mal sehen?«
Die drei schauen sich gegenseitig an. Der Mann schüttelt dann mit dem Kopf.
»Nein, das geht nicht. Wir sind nicht berechtigt, Fremden Zugang zu unseren Rechnern zu geben.«
»Ich will aber ja keinen Zugang, ich will einfach nur die Mail lesen.«
»Egal. Wir haben keinen Grund, Tobias zu misstrauen und werden um ihretwillen auch seine Post nicht herausgeben.«
Ich versuche einen anderen Weg, an Informationen zu kommen.
»Hat Ihr Kollege den Urlaub lange geplant oder kurzfristig beantragt?«
»Beantragt hat er ihn gar nicht. Wir können bei voller Besetzung des Büros auch kurzfristig mal einen Tag frei machen und noch am selben Morgen anrufen.«
»Das hat er gemacht?«
»Nein. Er war am Freitag vor seinem Urlaub der letzte im Büro. Er hat erst am Montag besagte Mail geschrieben. Da war er schon auf Mallorca.«
»Können Sie mir seine Adresse geben? Dann versuche ich, ihn dort zu finden.«
Wieder schaut eine zum anderen. Sie verständigen sich mit Blicken. Der Mann scheint ihr Sprecher zu sein.
»Wir können und wollen Sie nicht daran hindern, Tobias zu suchen. Die Adresse werden Sie als Journalist vermutlich ja auch anders herauskriegen – also können wir sie Ihnen auch gleich geben.«
Die junge Frau tippt etwas in den Computer und schreibt dann die Adresse vom Bildschirm ab auf einen Zettel. Den reicht sie mir.
»Es ist gleich um die Ecke. Er wohnt in einer neuen Eigentumswohnung.«
»Danke.«
Ich wende mich zum Gehen, da fällt mir noch etwas ein. Ein bisschen muss es wirken wie beim schrulligen Inspektor Colombo, als ich mich noch einmal umdrehe.
»Ach, das wollte ich noch fragen: Hatte Tobias Bahn bei einem oder einer von Ihnen Schulden?«
Das Flackern im Blick der älteren Frau ist nicht zu übersehen. Die anderen beiden sagen laut und klar »Nein«, diese Dame murmelt etwas, das ich nicht verstehe. Also hatte er Schulden. Ich vermute, sie wird es nicht zugeben. Trotzdem versuche ich, sie zum Reden zu bringen.
»Sie zögern? Also hatte er bei Ihnen Schulden?«
»Äh, ja. Tobias war oft klamm. Aber er ist ein guter Mensch! Er kümmert sich um seine alte Mutter. Die braucht teure Therapien und Stammzellen.«
»Sie hat Krebs? Wissen Sie, in welchem Krankenhaus sie liegt?«
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