»Es war ein Samstag, definitiv. Meine Enkelin besucht mich da immer. Ja, es war der 18. September. Am Tag darauf, also Sonntag, muss mein Nachbar dann irgendwann nachts zurückgekommen sein. Früh morgens am Montag hat Malte Kornbach ihn jedenfalls abgeholt und erst vorgestern wieder abgeliefert.«
Ich bedanke mich noch einmal und verabschiede mich.
Das ganze Gespräch fand bei nur halb geöffneter Tür im Flur statt. Der alte Mann ist nicht nur aufmerksam, er ist auch vorsichtig.
Ich nehme den Aufzug in die Tiefgarage. Der besagte blaue X1 steht neben einem weißen Tiguan. Wenn es stimmt, was der Alte erzählt hat, dann wurde der BMW nach Bahns Mallorca-Reise nicht mehr benutzt. Folglich ist sein Besitzer in jenen mysteriösen grauen Mercedes dieser zwei Typen eingestiegen. Das bedeutet, der Gesuchte könnte am Sonntag sogar mit in Himmelstal gewesen sein – falls es dasselbe Auto war.
Als ich in meinem Golf sitze, schaue ich noch einmal zum ersten Stock hinauf. Eine Gardine bewegt sich. Ich bin sicher, der alte Mann mit dem Pfefferspray verfolgt jede meiner Bewegungen. Leider fällt mir nun ein, dass ich ihn nicht gefragt habe, wo der Kumpel seines Nachbarn wohnt. Wie heißt der noch? Richtig, Malte Kornbach.
*
Die Adresse finde ich problemlos im digitalen Telefonbuch. Bevor ich den Kumpel von Tobias Bahn aufsuche, gönne ich mir im Griechen-Imbiss eine Gyrostasche.
»Immer wieder gerne!«, sagt der Chef des Hauses, als ich mich bei ihm bedanke. »Stammgäste wie dich halten uns am Leben! Kannst uns ja mal in die Zeitung bringen!«
»Mit Foto von dir?« Wir lachen. Er ist tatsächlich fotogen: Gepflegter Kurzhaarschnitt, markantes Gesicht mit braunen Augen und immer freundlich. Nicht nur die Qualität des Essens, auch das Personal hier ist Grund für eine gewisse Berühmtheit dieses Schnellrestaurants. Viele Biker kommen im Sommer, essen hier zu Mittag und genießen zum Nachtisch dann ein leckeres Eis gleich schräg gegenüber.
Ich fahre in die Siedlung, wo Malte Kornbach in einem Einfamilienhaus zur Miete wohnt. Er ist nicht da. Ihr Mieter arbeitet im Raiffeisen-Markt, verrät mir die Hausbesitzerin.
Also fahre ich dorthin. Der Laden wird von den Menschen in unserer Region hochgeschätzt, ist er doch der einzige Bau- und Pflanzenmarkt weit und breit. Zwar ist sein Sortiment kleiner als das der städtischen Baumärkte, doch man bekommt in der Regel, was man braucht.
Kornbachs schwarzer Golf steht auf dem Parkplatz. Spoiler und verbreiterte Radkästen samt Breitreifen mit schwarzen Alufelgen zieren den GTI. Malte Kornbach selbst finde ich im Lager. Er überprüft gerade eine Lieferung Tierfutter.
Malte ist etwa dreißig, mittelgroß, trägt eine Brille mit starkem Rand und versteckt unter seinem grünen Kittel ein kleines Bäuchlein. Er wirkt wie ein freundlicher Kumpel vom Biertisch – was er ja vermutlich auch ist.
Nachdem wir uns vorgestellt haben, frage ich ihn, wann er seinen Freund Tobias zuletzt gesehen hat.
Ohne zu überlegen antwortet er: »Na am Sonntag, dem Tag der Deutschen Einheit! Wir waren zusammen auf Malle. Um neun Uhr morgens sind wir mit Ryanair in Hamburg gelandet. Meinen Wagen hatte ich im Parkhaus abgestellt. Kurz vor elf Uhr habe ich Tobi dann vor seiner Wohnung abgesetzt.«
»Danach haben sie ihn seitdem weder gesehen noch von ihm gehört oder mit ihm gesprochen?«
»Das stimmt. Ich habe versucht, ihn anzurufen. Aber er geht nicht ran.«
»Hatten Sie beide diese Mallorca-Reise langfristig geplant?«
»Nee. Zwar reden wir seit vielen Monaten davon, aber nun kam es ziemlich plötzlich. Tobi hat am Samstagabend bei mir übernachtet. Wir haben was getrunken und wieder mal von Malle geschwärmt. Da kam die Idee auf, unseren Traum umgehend zu realisieren. Also haben wir unseren Urlaub genommen, online gebucht und sind am Montag auch schon gleich losgeflogen.«
»Ganz schön spontan. War das typisch für Sie beide?«
»Ich weiß nicht, was hinter ihrer Frage steckt. Na ja, sonst gehörten wir eher zu denen, die von ihren Träumen ständig nur reden. Vor allem, wenn wir was getrunken hatten. Nun haben wir endlich gezeigt , dass wir auch Handeln können!«
Kein Wunder. Tobi war wegen des Schatzes unter Druck. Fabian von Heimfeld und vor allem diese beiden Mercedes-Typen saßen ihm im Nacken. Da hat er vermutlich gehofft, etwas Abstand ließe Gras über die Sache wachsen.
»Und, wie war Malle? Hat sich etwas Besonderes ereignet?«
Malte Kornbach schenkt mir einen mitleidigen Blick.
»Na, wie war Malle wohl? Feucht, sonnig und kurvig.«
»Also habt ihr am Ballermann das Bier, die Sonne und die Mädels genossen?«
»So kann man es sagen. Wegen Corona war alles noch etwas eingeschränkt, aber eben nur etwas.«
»Hat Ihr Freund, vielleicht nach genügend Alkoholkonsum, irgendetwas Auffallendes gesagt oder erzählt?«
Malte schaut mich fragend an.
»Was sollte das sein? Er hat mal gemeint, das nächste Mal ginge es auf die Malediven oder nach Dubai. Aber das war natürlich im Scherz. Wir könnten uns das nicht leisten.«
»Hat Tobias irgendwie auffällig mit Geld um sich geworfen oder einen Schmuckladen oder ähnliches aufgesucht!«
Wieder ein fragender Blick. »Nee. Er hat mit Karte zwar manchen Euro auf den Kopf gehauen und mich und die Mädels auch mehrfach eingeladen, aber so überaus auffällig war das nun auch nicht. Was bedeuten Ihre seltsamen Fragen?«
»Nun, Ihr Freund ist seit zwei Tagen verschwunden. Da macht man sich doch Sorgen, oder?«
Kornbach wird immer misstrauischer. Er weiß jedenfalls nichts vom Schatz. Davon etwas mitgenommen und auf der Insel verkauft, hat Tobias wahrscheinlich auch nicht. Folglich muss der komplette Schatz irgendwo hier in Bahns Umfeld versteckt sein.
»Na, wegen zwei Tagen Abwesenheit würde ich mir da keine Sorgen machen.«
Ich frage nach Tobias’ Freundin.
»Mit Dari ist er schon länger nicht mehr zusammen. Die arbeitet jetzt in einer Art christlicher Jugendherberge in Himmelstal und ist ja wohl fromm geworden. So eine passt auch nicht zu Tobi! Die beiden haben sich immer wieder gestritten. Dann kam Corona. Da hat sich Dari völlig zurückgezogen. So jedenfalls hat Tobi es mir erzählt.«
Wieder bin ich überrascht. Kornbach spricht von jener Dari, die auch ich kenne, die Auszubildende im Tagungshaus.
»Wissen Sie, wann die beiden sich zuletzt getroffen haben?«
»Tobias hat mir erzählt, dass er noch am Tag vor unserem Abflug bei Dari in der Wohnung war. Er habe dort noch etwas vergessen, meinte er.«
»Vergessen? Was?«
»Das hat er nicht gesagt. Aber warum fragen sie jetzt all dies? Tobi ist erwachsen. Er kann auf sich selbst aufpassen.«
Bevor Malte Kornbach noch misstrauischer wird, danke ich ihm und beende das Gespräch. Ich kann nicht ändern, dass Malte mit vielen Fragen zurückbleibt. Mir geht es ja nicht anders. Vor allem fehlen mir Antworten.
*
Es ist klar: Dari ist die nächste, mit der ich reden muss. Soll ich sie überraschen? Oder besser anrufen? Ich entscheide mich für die Überraschung.
Nur sieben Minuten brauche ich vom Fleckenzentrum bis nach Himmelstal. Links der Straße hat die Telekom kürzlich einen schlanken Turm errichtet, um das Mobilfunknetz zu verbessern. Das war auch dringend nötig! Diese Strecke fahre ich inzwischen gewissermaßen im Schlaf. Auch hier liegen lange Zuckerrübenwälle. Teilweise wurden sie mit Planen abgedeckt, gehalten von alten Reifen. Ein topp renovierter Bauernhof mit vielen Nebengebäuden betreibt in der Region Zuchtversuche mit Getreide. Ich staune, dass man mit Landwirtschaft ja offenbar auch viel Geld verdienen kann. Vielleicht muss Fabian von Heimfeld in dieser Firma mal fragen, wie das funktioniert.
Immer, wenn ich das Ortsschild und etwas später die alte Wassermühle mit den Teichen und dem Bach passiere, beschleichen mich gemischte Gefühle. Einerseits ist dies mein Dorf. Ich fühle mich hier sauwohl und gehöre dazu. Andererseits komme ich mir vor wie ein Kuckuck, der sich einfach in ein fremdes Nest gesetzt hat. Damit meine ich natürlich dieses Dorf, aber vor allem auch das Haus von Maren. So sehr ich es mag und mich dort zu Hause fühle, so sehr empfinde ich manchmal, dass ich dieses Geschenk nicht verdient habe und noch immer ein bisschen fremd bin.
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