Ich parke zwischen Kirche und Tagungshaus vor einem grünen Lastwagen, der hier fast immer steht und den Blick von der schönen alten Feldsteinkirche ablenkt. Der Zugang zum Tagungshaus durch eine enge Pforte könnte mal wieder etwas freigeschnitten werden. Die Büsche auf der einen und Strandrosen auf der anderen Seite verengen den Durchgang. Dabei marschieren hier fast täglich Jugendliche und Erwachsene hindurch in die Kirche auf der anderen Straßenseite.
Der Wein an der roten Wand des Haupthauses trägt Früchte. Die Trauben sind klein, süß und inzwischen fast reif. Im Vorbeigehen nasche ich ein paar davon.
Mich amüsiert das Schild zwischen den Reben am Pfosten der Überdachung vom Eingang immer wieder, wenn ich hier vorbeikomme. »Luther war hier nie« steht dort.
Das »nie« ist so klein geschrieben, dass man es erst auf den zweiten Blick sieht. Ob sie das irgendwann mal für den Reformationstag thematisieren? Evangelisch ohne Luther? Geht denn das überhaupt?
Ich klingle.
Eine etwas korpulente junge Frau öffnet die Tür. Sie trägt einen Kittel. Mir fällt ihr Name nicht mehr ein.
»Jens! Wie schön, dich zu sehen.«
Peinlich. Ach ja, Saskia heißt sie. Mit dem neuen Team habe ich erst ein einziges Mal zusammengesessen. Nun fällt es mir wieder ein. Saskia will nach ihrem Freiwilligen Jahr hier im Gästehaus Pastorin werden.
»Danke. Ich hoffe, es geht euch gut im Team!«
Sie lacht. »So gut es eben geht, wenn nach der Corona-Pause wieder ’zig Gruppen das Haus stürmen.«
»Aber da werdet ihr euch doch hoffentlich freuen!«
»Klar. Gastfreundschaft – dafür sind wir schließlich angetreten! Nun endlich geht das normale Leben wieder los.«
»Hoffen wir, dass die vierte Welle nicht zu heftig wird!«
»Allerdings. Einige Gruppen haben schon wieder abgesagt. Theo Beyer ist bereits wieder am Rechnen, wie das alles finanziell klappt. Die Schließungen bisher haben wir ja dank vieler Spenden und Staatshilfen gut überstanden.«
Wir stehen im Flur vor dem Aufenthaltsraum des Teams. Zwei weitere junge Leute sagen »Hallo«, Anna und Kevin. Diese Namen habe ich behalten. Anna ist sehr still, macht aber äußerlich einen verwegenen Eindruck. Glatte, dunkle und lange Haare mit hellblauer Strähne, schwarze Jeans mit diversen Rissen, schwarze Kreuzanhänger im Ohr und eine tätowierte Möwe am Hals – die jungen Christen treten heute anders auf, als selbst ich es erwarte. Kevin dagegen bedarf keiner ausgefallenen Kleidung, um aufzufallen. Er ist ein schmächtiger Blondschopf, der sich immer ins Spiel bringt.
Wir nannten das früher »Rampensau«. Heute meinen manche, es sei ADHS, nur weil Menschen auf sich aufmerksam machen und dabei äußerst bewegt und vital auftreten.
»Hey, Jens! Willst du uns einfach mal so besuchen oder wieder über ein christliches Thema interviewen?«
»Hallo. Nein, ich suche eure Kollegin Dari.«
Die drei jungen Leute werfen sich Blicke zu.
»Dari? Warum suchst du sie?«
»Eigentlich suche ich ihren Freund Tobias Bahn. Aber der ist verschwunden.«
Wieder schauen sich die drei gegenseitig an, als erwarten sie vom jeweils anderen Antworten. Kevin ergreift das Wort.
»Tobi? Den haben wir nur ein- oder zweimal gesehen. Dari ist seit langem nicht mehr mit ihm zusammen.«
»Ich weiß. Eure Kollegin wollte die Coronazeit mit euch als Team und hier in der Hausgemeinschaft verbringen. Ich würde Dari aber echt gerne sprechen.«
»Wir auch. Leider ist sie seit gestern Morgen in Urlaub.«
Es hört sich an, als gäbe es dazu mehr als diese reine Sachinformation zu sagen.
»Ihr betont das etwas merkwürdig.«
Kevin nickt. »Es ist merkwürdig. Wir wussten von nichts. Dari hat eigentlich niemanden. Als Auszubildende wohnt sie ja nicht hier bei uns, sondern drüben bei den Strombergs. Da kriegen wir natürlich nicht alles mit. Am Sonntag, beim regionalen Kirchentag, hat sie noch normal in der Küche mitgearbeitet. Aber irgendetwas muss passiert sein. Sie war extrem still. Am Montag hat sie sich dann abgemeldet, angeblich weil jemand im Bekanntenkreis gestorben ist.«
»Das könnte sogar stimmen«, Saskia mischt sich ein. »Gestern Vormittag hat hier ein Mann mit ausländischem Akzent angerufen. Er hat gesagt, er sei ein Verwandter von Dari und wolle sie sprechen. Aber Dari war bereits weg.«
»Sie ist mit Andreas in die Kreisstadt gefahren. Er ist Einkäufer und wir brauchten Nachschub für die Gruppe, die morgen anreist. Er hat Dari am Busbahnhof abgesetzt.«
Mehr weiß Kevin nicht. Ich sollte also Andreas noch befragen, der allerdings hat heute frei und ist nicht hier.
Mir fällt auf, dass Anna noch nichts gesagt hat, aber irgendwie besonders betroffen zu sein scheint. Vielleicht weiß sie mehr. Allerdings werde ich sie lieber separat befragen, noch vor Andreas, wenn möglich.
»Willst du einen Kaffee mit uns trinken? Und ein Stück von Saskias Nusskuchen probieren?«
Kevin hält mir schon eine leere Tasse hin.
Ich schaue auf die Uhr. Für heute reicht es, Schatz hin und Schatz her! Ich habe noch viel zu tun und wollte eigentlich längst auf dem Weg in den Südkreis sein. Mein Kollege Stein ist in Quarantäne. Er ist unser Sportreporter und hat einen Fußballtrainer interviewt, dessen Zöglinge eisern den letzten Platz in der 3. Kreisliga verteidigen. Der Trainer wurde am Tag nach dem Interview positiv auf Corona getestet und Steini, wie wir unseren Kollegen liebevoll nennen, muss nun für vierzehn Tage in Quarantäne. Wie es kam, dass der Verein ohne seinen Trainer am Sonntag im Spiel gegen den führenden Club der Liga drei Punkte gemacht hat, soll ich nun herausfinden. Ich vermute, es wird eine lustige Story: Ohne Trainer spielt sich’s besser!
Ich verabschiede mich also von diesen sympathischen jungen Menschen, stibitze noch ein paar Weintrauben und mache mich auf den Weg zu neuen Herausforderungen.
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