»Hinknien«, sagte der Mann hinter ihm plötzlich.
»Nein, bitte nicht! Ich will nicht sterben«, flehte Bender um sein Leben.
»Nein, natürlich willst du das nicht. Hinknien habe ich gesagt!«
Bender folgte seiner Anweisung schließlich. Der Krankenpfleger weinte jetzt hemmungslos.
»Du hättest eine faire Chance haben können, wenn du zur Polizei gegangen wärst«, sagte er plötzlich.
»Aber das kann ich doch immer noch tun«, erwiderte der Todgeweihte, obwohl ihm da wohl längst klar gewesen sein musste, dass es für ihn keine Hoffnung mehr gab.
»Nein, das kannst du jetzt nicht mehr. Du hattest deine Chance«, antwortete er und drückte ab. Zwei Mal. Der Krankenpfleger Mathias Bender war tot. Damit war sein Auftrag erfüllt. Jetzt stand nur noch ein Name auf der Liste. Die Vorbereitungen für seinen letzten Auftrag hatten schon längst begonnen.
Kriminalhauptkommissar Karl Hansen war siebenundvierzig Jahre alt und arbeitete bereits seit über zwanzig Jahren für die Polizei in Aachen, davon alleine zehn Jahre in der Mordkommission. Vor knapp zwei Jahren war ihm die Leitung der Abteilung für Tötungsdelikte übertragen worden. Er galt als ruhiger Stratege, der sich auch schon einmal gerne von seiner Intuition leiten ließ. Gelegentlich neigte er aber auch gerne zu impulsiven Gefühlsausbrüchen, was seine Kollegen aber mit der nötigen Gelassenheit hinnahmen. Trotz des leichten Bauchansatzes, den er mittlerweile nicht mehr kaschieren konnte, hatte er eine sportliche Figur. Obwohl er selbst keinerlei sportlicher Betätigung nachging. Er war eher der gemütliche Typ. Er liebte gutes Essen und trank gerne schon einmal einen über den Durst. Abgesehen davon hatte er ein Faible für Geschichte. Wann immer es seine Zeit zuließ, las er in irgendeinem Geschichtsbuch.
Als das Telefon gegen drei Uhr in dieser Nacht klingelte, hatte die Nachtruhe des Kommissars wieder einmal abrupt geendet. Wenigstens hatte der Anrufer sich kurzgefasst. Seine Frau Christine hatte nichts von dem Anruf mitbekommen. Er beneidete sie darum, weiterschlafen zu können, während für ihn die Nacht beendet war. Hansen nahm seine Kleidung, die er am Vorabend auf dem Stuhl neben dem Bett abgelegt hatte, und schlich nahezu geräuschlos aus dem Schlafzimmer. Darin hatte er mittlerweile reichlich Routine. Er stapfte ins Badezimmer, wusch sich sein Gesicht, brachte seine zu allen Seiten abstehenden braunen Haare wieder in Form und putze sich die Zähne. Knapp zehn Minuten nach dem Telefonat verließ er seine Wohnung und fuhr zum Tatort, der sich in der Nähe des Sportparks Soers befinden musste. Die Soers, die unter anderem Heimstätte des Fußballklubs Alemannia Aachen war, umfasste eine große Anlage. Die Angaben zum Tatort, die er vom Kollegen des KDD erhalten hatte, waren zwar nicht sehr präzise gewesen, aber er kannte sich gut dort aus.
Als er an der Rückseite des Reitstadions vorbeifuhr, konnte der Kommissar bereits das Blaulicht eines Einsatzwagens erkennen. Er steuerte geradewegs darauf zu. Zu seiner Überraschung war außer den beiden Kollegen der Schutzpolizei, sonst niemand zu sehen. Hansen stoppte direkt links neben dem Streifenwagen und ließ das elektrische Fenster der Beifahrertür hinunterfahren.
»Sind Sie Hauptkommissar Hansen?«, fragte der junge Polizist, den Hansen noch nie zuvor gesehen hatte.
»Ja, bin ich.«
»Man hat uns gebeten, hier auf Sie zu warten. Der Zeuge, der den Leichenfund gemeldet hatte, konnte nämlich der Leitstelle vor lauter Aufregung nicht den genauen Fundort nennen. Deshalb hat der Kollege Ihnen den Sportpark Soers als Tatort mitgeteilt, was so aber nicht ganz richtig ist«, antwortete der junge Mann.
»Sie müssen der Straße weiter folgen und dann den Sonnenweg Richtung Autobahn hochfahren. Das letzte Stück müssen Sie dann zu Fuß gehen. Dann werden Sie Ihre Kollegen schon von Weitem sehen können.«
Hansen bedankte sich für die Wegbeschreibung, bevor er das Beifahrerfenster wieder hochfuhr. Im Rückspiegel erkannte er, wie ihm der junge Streifenpolizist nachschaute. Wie der Kollege vorhergesagt hatte, konnte Hansen schon aus der Entfernung die mobilen Flutlichtstrahler erkennen, die von der Spurensicherung aufgestellt worden waren, um den Tatort auszuleuchten. Hansen befürchtete, dass der Doppelmörder, der Aachen seit einigen Wochen in Angst und Schrecken versetzte, wieder zugeschlagen hatte. Der entlegene Tatort schien schon einmal ein Hinweis darauf zu sein. Bei dem Gedanken daran verkrampfte sich sein Magen.
Als der Maschinenbaustudent Michael Kämper ermordet wurde, hatten Hansen und sein Team noch nicht die geringste Ahnung gehabt, dass dieser Tat weitere Morde folgen sollten.
Kurze Zeit später fanden sie den Aachener Geschäftsmann Hans-Josef Körlings. Aufgrund der Spuren, die man am Tatort sicherstellen konnte, war schnell klar, dass Körlings von der gleichen Person ermordet worden war wie Kämper.
An beiden Tatorten hatte die Spurensicherung jeweils eine kleine bedruckte Visitenkarte gefunden. Auf der Vorderseite befand sich die Abbildung eines schwarzen Engels. Auf der Rückseite Teile eines Bibelzitats. Bei Kämper »Auge um Auge«. Auf Körlings Visitenkarte hatte »Zahn um Zahn« gestanden. Und die Morde wiesen noch eine Gemeinsamkeit auf. In beiden Fällen gab es bisher keinerlei weitere Anhaltspunkte, wenn man einmal vom Modus Operandi und der verwendeten Tatwaffe absah. Es gab nicht einmal einen Hinweis darauf, dass sich die beiden Opfer gekannt hatten.
Als Hansen die Absperrung des Tatortes erreicht und den Wagen abgestellt hatte, konnte er bereits Mertens und sein Team in ihren weißen Overalls bei der Arbeit erkennen.
Paul Mertens war Chef der KTU, der kriminaltechnischen Untersuchung. Er war im gleichen Jahr wie Mertens zur Truppe gelangt. Es gab kaum einen Fall, in dem die beiden nicht zusammengearbeitet hatten. Mertens war fast immer der Erste, der an einem Tatort eintraf. Und meistens auch einer der Letzten, der ihn wieder verließ. Hansen schätzte die Arbeit seines langjährigen Weggefährten sehr. Der Leiter der Spurensicherung besaß eine ausgeprägte Kombinationsfähigkeit und seine bisweilen unkonventionellen Methoden hatten schon oft wichtige Anhaltspunkte, die zur Aufklärung eines Falles beigetragen hatten, geliefert.
Während sich Hansen der Tatortabsperrung näherte, bereitete er sich schon innerlich darauf vor, was Mertens ihm wohl gleich erzählen würde. Und für den Fall, dass Hansen mit seiner Vermutung recht behalten würde, konnte er sich schon einmal darauf einstellen, unangenehme Fragen beantworten zu müssen. Erst seinem Chef und später der Presse.
***
»Schöne Scheiße«, sagte Mertens gerade in dem Moment als Hansen die Absperrung passiert hatte und auf den Kollegen zusteuerte.
»Ich freue mich auch sehr, dich zu sehen!«
Mertens ging wie immer nicht darauf ein.
»Der Platzregen hat alle Spuren weggespült. Dieser Hurensohn hat so ein Glück!«, echauffierte sich Mertens.
»Hm«, erwiderte Hansen, dessen Vorahnung sich ganz offensichtlich als richtig herausgestellt hatte.
»Mehr hast du dazu nicht zu sagen?«
»Das mit dem Regen ist ärgerlich, aber nicht zu ändern Paul. Ihr habt eine Visitenkarte bei dem Opfer gefunden?«
»Gut kombiniert, Sherlock. Ist schon im Beweismittelbeutel verstaut. Auf der Rückseite hat er den dritten Teil des Bibelzitates verwendet. Hand um Hand. Das Opfer heißt übrigens Mathias Bender. Er hatte einen Ausweis im Portemonnaie«, erwiderte Mertens. »Ich tippe bei der Tatwaffe auf eine neun Millimeter, wie bei den letzten beiden Morden auch. Wir haben bisher allerdings keine Patronenhülse gefunden. Wir können davon ausgehen, dass unser Täter sie mitgenommen hat. Also können wir erst nach der Obduktion mehr über die Tatwaffe sagen.«
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