»Wo sind Frank und Feil?« Berendtsen drückte seine Nasenflügel zusammen, um ein Niesen zu vermeiden. Er fühlte mit der Hand über die Stirn. Fieber hatte er nicht, fühlte sich aber schlapp.
»Zuhause, Chef. Sie haben Nachtschicht, wie sie wissen sollten. Sie haben sie heute Nacht selbst getroffen. Die beiden haben die ganze Woche Spätschicht.«
Berendtsen tippte sich an die Stirn. »Natürlich. Entschuldigung.«
Sie goss Kaffee nach und servierte Gebäck.
Berendtsen versuchte, ein Gähnen zu unterdrücken. Es misslang. »Bist du nicht müde, Oliver?«
»Es geht. Mit zwei Kindern hat man Übung darin, sich die Nacht um die Ohren zu schlagen.«
Heiterkeit und Verständnis.
Berendtsen reckte sich mühsam. »Haben Sie ein Ibu für mich, Uschi?«
Sie hatte.
Berendtsen sah auf die Uhr. Uschi legte ihm die Tageszeitung hin. Der Anschlag war nicht aufgeführt. Das würde gegen Mittag erst auf der Homepage und morgen in den Nachrichten vom Kreis stehen.
Berendtsens Handy meldete sich mit der Melodie ›Up To Date‹ vom aktuellen Sportstudio. Frau Dr. Rother, die Pathologin suchte ihn.
»Guten Morgen, Frau Dr. Rother.«
»Wenn Sie Lust auf Ergebnisse haben, Herr Berendtsen, kommen Sie vorbei. Versprechen Sie sich nicht zu viel«, beugte sie gleich einer Enttäuschung vor.
»Wir sind unterwegs. Komm mit, Oliver. Die Rother hat Ergebnisse.«
Einen Moment brauchten die beiden doch noch, um den Rest Kaffee zu trinken und die beiden letzten Plätzchen zu verteilen.
Auf dem Flur zog Berendtsen geschwind ein Päckchen Taschentücher hervor und schnäuzte intensiv seine Nase.
»Verkühlt heute Nacht?«, fragte Hallstein.
»Vermutlich. Hoffentlich kommt die Erkältung nicht durch.«
Ehe die Kommissare an die Tür der Pathologie klopften, griff jeder noch einmal in die Tüte mit den Gummibärchen.
»Sicherheitshalber?«, lachte Hallstein. Er mochte den Geruch in diesen Räumen nicht.
»Was gibt’s Gutes, Frau Dr. Rother?«, begrüßte sie Berendtsen.
Sie deckte das Leichentuch bis zur Schulter auf.
»Dieser junge Mann wurde von einem Metallstück am Kopf getroffen. Er hat noch kurz gelebt, wie wir auch von dem Zeugen wissen, aber lange kann es nicht gewesen sein. Vielleicht fünf bis sechs Minuten. Die Spusi hat ein rotes Stückchen der Propangasflasche in der Laube gefunden, die zu dem Einschlag passt. Er wurde mit solcher Wucht getroffen, dass es ein Loch in die Schädeldecke geschlagen hat. Durch die Gewalt der Explosion wurde er wohl aus der Laube herausgeschleudert. Vielleicht hat er es auch geschafft, aus eigener Kraft die Laube zu verlassen. Das müssen Schmidt und seine Mitarbeiter herausfinden.« Die Pathologin stocherte mit einer Pinzette, die sie aus der aufgenähten Brusttasche zwischen den Kugelschreibern und einem Spatel herausgefummelt hatte, mehrmals in das Loch der Schädeldecke hinein. »Mich wundert, dass er überhaupt noch etwas gesagt hat. Der Mann war in einer außerordentlich guten Verfassung. Muskulös, durchtrainiert, ein Meter Fünfundachtzig. Zähne leider ok. So konnten wir anhand des Gebisses keinen Hinweis bekommen. Er war noch nie beim Zahnarzt. Außer zum Nachsehen vielleicht. Es wird keine Unterlagen geben, geschweige denn ein Röntgenbild. So kann ich leider bei der Identität nicht weiterhelfen. Schuhgröße vierundvierzig. Nichts Auffälliges. Nur seine Leber hat er nicht geschont.«
»Er hat gesoffen?« Berendtsen war erstaunt.
»Nicht exzessiv, aber doch regelmäßig. Außerdem scheint er ab und an einem Trip nicht abgeneigt gewesen zu sein. Im Blut habe ich nichts gefunden, in den kurz geschnittenen Haaren auch nicht, aber die Nase zeigt innen Veränderungen auf, die auf das Schnupfen von Kokain und das Rauchen von Crack hindeuten, was auch an den Augenbrauen festzustellen ist.« Sie fuhr mit ihrer Pinzette über die spärlichen äußeren Haare der Brauen. »In jüngster Vergangenheit hat sich nicht viel abgespielt, aber bis vor einem, vielleicht anderthalb Jahren, scheint er Drogen konsumiert zu haben. Und zwar nicht zu wenig. Wahrscheinlich wollte er einen Neuanfang und hat sich deshalb die Haare kurz schneiden lassen und angefangen zu trainieren.«
»Damit es dort nichts mehr nachzuweisen gibt?«
»Genau. Ich vermute, er hat früher – wie viele dieser Hippies – wohl die Haare lang getragen. Dann wurde er abstinent und hat sich die Kokainreste abschneiden lassen. Machen viele Cleane.« Frau Dr. Rother bedeckte die Leiche. »Der Junge scheint ein Freund italienischer Küche gewesen zu sein. In seinem Mageninhalt fanden sich Reste von Tomaten, Mozzarella und Mascarpone. Das deutet auf Pizza hin. Als Dessert gab es Tiramisu. Dazu genoss er ein Glas Rotwein. Mehr war es nicht, denn der Alkoholgehalt in seinem Blut war 0,1 Promille. Dem Zersetzungsgrad nach war er bis mindestens halb zwölf in einem italienischen Restaurant zu Gast. Ich habe mit Herrn Schmidt gesprochen, der Essensreste weder im Jagdhaus noch im Schrebergarten gefunden hat.«
»Wir sollten herausfinden, wo er gegessen hat und mit wem.« Dessert und Rotwein, fand Berendtsen, könnte ein Anhaltspunkt sein, dass er nicht allein war.
Hallstein schlenderte, die Hände in den Hosentaschen vergraben, einmal um das Opfer herum. »Vierunddreißig Jahre alt? Kommt das hin?«
»Könnte er gewesen sein. Vom Erscheinungsbild her würde ich sagen, er war Mitte zwanzig, höchstens achtundzwanzig. Vielleicht auch dreißig.«
»Hast du dich um einige Jahre verrechnet, Albert?«
»Kann ich mir nicht vorstellen. Aber ich werde noch einmal den Platzwart anrufen. Die Nummer habe ich irgendwo …« Er blätterte in seinem für diesen Fall neu angelegten elektronischen Notizbuch. Wie hieß er gleich …? Drache«, fiel ihm wieder ein.
Er meldete sich nicht.
»Es macht keinen großen Unterschied. Aber wenn du dich nicht verrechnet hast – wovon ich ausgehe -, dann wundert mich das schon. Sind die Daten in seinem Stammblatt absichtlich gefälscht? Was ist noch gefälscht?«
»Wir müssen den Platzwart Drache fragen, ob für die Anmeldung ein amtliches Dokument erforderlich ist.«
»Du meinst, Albert, er hat sein Alter absichtlich falsch angegeben?«
»Wenn kein Dokument erforderlich ist, könnte es durchaus sein, dass er sich älter dargestellt hat. Vielleicht darf man erst ab einem gewissen Alter einen Platz mieten.«
»Dann könnte alles getürkt sein. Name, Vorname, Adresse …«
Berendtsens Handy vibrierte.
»Berendtsen.«
Es war der Platzwart. »Sie haben versucht, mich zu erreichen. Ich habe diese Nummer im Display gesehen. Wusste allerdings nicht, dass es Ihre war, Herr Kommissar. Was liegt an?«
»Ich habe nur einige kurze Fragen: Muss bei der Anmeldung für den Platz ein amtliches Dokument vorgelegt werden? Personalausweis oder Führerschein?«
»Natürlich. Müssen wir haben. Ist Vorschrift. Es handelt sich nicht um ein Hotel. Wir benötigen eine Bankverbindung, denn die Miete wird per Lastschrift eingezogen. Wir brauchen auch eine Anschrift, zu der wir Nachrichten schicken können, wenn der Mieter längere Zeit abwesend ist. Außerdem muss eine Telefonnummer hinterlassen werden für den Fall eines unerwarteten Ereignisses. Ein Ansprechpartner muss immer erreichbar sein. Vor Jahren gab es hier ein Unwetter mit Regen und fürchterlichem Sturm. Kyrill, kennen sie den noch? Wir mussten den Leuten Dampf machen, damit sie auf ihre Dächer achtgeben. Manche Leute kommen nur ein bis zweimal im Jahr. Da kann sich viel tun.«
»Dann haben Sie auch eine Telefonnummer?«
»Natürlich. Ich werde sogleich nachschauen? Wollen Sie warten?«
»Wenn es nicht zu lange dauert, warte ich gern.«
Berendtsen hörte, wie er den Hörer auf der Tischplatte ablegte und eine Schranktür öffnete. Blättern. Schimpfen. Irgendetwas war ihm unverhofft entgegengefallen. Ein Schmunzeln überflog Berendtsens Gesicht.
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