Horatio konnte nicht hören, was gesprochen wurde, aber er sah, wie die Männer sich missmutig wieder an ihre Arbeit machten und anfingen, zu graben. Es ging aber gemächlicher zu als am Vortag. Das würde Esubam nicht schmecken.
Er beobachtete Sarah, die im Morgenmantel wieder zu ihrem Zelt ging. Aber er sah auch die gierigen Blicke der Männer, die sie verfolgten. Das würde über kurz oder lang Ärger geben. Er seufzte. Ihm wurde klar, dass er recht bald eine Entscheidung würde treffen müssen. Und er wusste, sollte Sarah in Gefahr geraten, würde er nicht zögern, sie zu retten.
Doch vorerst würde er weiter beobachten.
In der Oase waren mittlerweile Umblai und Msara mit ihrem Gefangenen eingetroffen. Er lag, gefesselt, geknebelt und mit verbundenen Augen, gut bewacht in einem Zelt. Sefu hörte den beiden Männern zu.
»Ihr wollt Rache?«, fragte er sie.
Umblai schüttelte den Kopf.
»Nein. Wir wollen Gerechtigkeit. Und wir wissen alle, dass wir diese von den Behörden nicht erwarten können.«
Sefu nickte.
»Das ist richtig. Wir haben jetzt folgende Situation: Dieser Mann dort hat eure Familie entehrt, sie getötet. Und er ist im Begriff, das zu stehlen, was zu beschützen wir uns verpflichtet haben.«
Er sah die beiden nacheinander an.
»Doch was hat Vorrang? Eure Familie oder unser Schwur?«
Msara sah seinen Bruder an.
»Sefu. Diese Frage zu stellen ist schon fast eine Beleidigung. Unser Schwur hat immer Vorrang. Und du weißt, wir würden niemals die Bruderschaft verraten. Doch gib uns nur eine Stunde mit ihm.«
Sefu wiegte den Kopf.
»Das ist keine Frage, was wichtiger ist, wenn ich es recht bedenke. Es ist mehr die Frage, wie wir vorgehen. Welche Strafe für welches Vergehen?«
Umblai beugte sich vor und redete in leiser Stimme. Sefu hörte aufmerksam zu und nickte.
»Du hast weise gesprochen. So soll es geschehen. Ihr beide seid verantwortlich dafür. Und das, was am Ende übrig bleibt, schenkt ihr dem Schwarzauge.«
Die Brüder erhoben sich und gingen zu dem Zelt, in dem Chaths noch immer lag. Er ahnte, dass er den nächsten Sonnenaufgang nicht mehr erleben würde.
Sie packten und hievten ihn auf ein Kamel, bestiegen die ihren und ritten in die Wüste hinein, an eine Stelle, die sie für geeignet hielten.
Am Nachmittag entstand auf einmal Hektik im Lager. Die Männer, die gruben, hatten sich trotz ihrer recht sparsamen Arbeitsweise mittlerweile recht tief vorgearbeitet. Einer kam plötzlich aus der Grube, winkte und gestikulierte. Horatio richtete sein Fernrohr auf die Grabung.
Esubam kam angelaufen, gefolgt von Sarah. Er sprang in das Loch hinein, folgte der ausgestreckten Hand des Mannes, der gerufen hatte und beugte sich vor. Als er wieder aus dem Loch stieg, konnte Horatio erkennen, dass man etwas gefunden hatte, was interessant zu sein schien. Es handelte sich um eine Steintafel, etwas größer als ein Buchrücken. Horatio hatte keine Ahnung, was darauf zu sehen war. Doch an der Haltung Esubams war zu erkennen, dass es etwas Wichtiges sein musste. Er nahm die Tafel und verschwand mit ihr in seinem Zelt. Sarah wollte mit ihm hinein, aber er wies sie ab. Sie stand vor dem Eingang, sah sich um. Und wieder hatte sie das Gefühl, als würden ihr unsichtbare Augen folgen.
Im Winter Palace saß Andrew O’Leary wieder in der Bar. Der Junge schlief tief und fest. Ein gutes Zeichen. Er hatte der Mutter erlaubt, bei ihrem Sohn zu bleiben. So konnte er sich auch ein wenig erholen.
Ein Scotch ließ seine Laune langsam besser werden. Er dachte an seine Tochter.
»Sarah, was ist mit dir?«
Es gefiel ihm nicht, dass sie mit Esubam quasi alleine war. Er traute dem Kerl nicht. Er wusste, dass Sarah in London ein Verhältnis mit dem Bruder ihres Verlobten gehabt hatte. Aber er hatte Verständnis, denn jeder hatte, seiner Meinung nach, ein Anrecht darauf, seine Bedürfnisse zu befriedigen. Und, wenn er genau darüber nachdachte, besser mit Horatio Gordon als mit einem Kerl, der sich die Syphilis geholt hatte.
Nach dem dritten Scotch war er so weit, dass er Horatio sogar als Schwiegersohn akzeptiert hätte. Doch er war tot. Und genau da lag das Problem.
Sarah hatte wirklich kein glückliches Händchen mit der Wahl ihrer Männer gehabt. Der eine holte sich bei einer billigen Nutte den Tod, obwohl er immer der »Vorzeige-Sohn« gewesen war. Und der andere, das schwarze Schaf, hatte seine Tochter beschützt. Doch er hatte am Schluss seinen eigenen Bruder getötet und sich dann selber gerichtet. Der arme Henry Gordon hatte an einem Tag seinen Sohn und seinen Stiefsohn verloren. Und ein halbes Jahr später war seine Frau an gebrochenem Herzen gestorben.
Aber was hatte Sarah die letzte Zeit gesagt? Horatio beobachte sie? Das war unmöglich. Oder doch nicht? Ein weiterer Scotch … und Andrews Gedanken kreisten um Horatio.
Was, wenn er doch nicht tot war? Wenn er auf ein Schiff gegangen und abgehauen wäre? Man hatte keine Leiche gefunden. Nur einen Abschiedsbrief.
Doch wie sollte er ausgerechnet nach Ägypten kommen? Nein, das war absurd. Genau so absurd, als wenn Henry Gordon plötzlich hier hereinschneien würde, dachte Andrew mit einem sauren Lächeln.
»Verdammt! Spricht hier kein Mensch Englisch?«, hörte er auf einmal eine Stimme. Er glaubte, sich verhört zu haben.
»Sie da! Ja, Sie! Es wurde ein Zimmer für mich bestellt. Meine Ankunft wurde avisiert. Verstehen Sie mich?«
Andrew ließ das Glas fallen, das mit einem dumpfen Geräusch auf dem weichen Teppich landete. Zum Glück leer , dachte er noch, als er sich mühsam erhob und ins Foyer wankte. Er konnte, er wollte es nicht glauben.
»Herr im Himmel!«, entfuhr es ihm. Der Mann an der Rezeption drehte sich um.
»Andrew! Dem Herrn sei Dank, ein zivilisierter Mensch!«
»Henry? Henry Gordon? Was zum Teufel machst du hier?«
»Sarah? Sarah, sieh dir das …«
András Esubam verstummte mitten im Satz und blieb an Sarahs Zelteingang wie angewurzelt stehen, als er sah, dass die Rothaarige begonnen hatte, ihre Habseligkeiten in der Reisetasche zu verstauen.
»Was machst du da?«
Als er die eigene Frage hörte, kam sie ihm beinahe dümmlich vor.
»Packen!«, kam auch prompt die knappe Antwort. Sie hielt keine Sekunde inne, bewegte sich mit festen, entschlossenen Schritten und würdigte den Professor keines Blickes. Trotzdem konnte er sehen, dass ihre grünen Augen Funken sprühten.
Unbehaglich neigte er den Kopf.
»Packen? Wieso das denn? Ist etwas passiert?«
»Ja, es IST etwas passiert!«
Jetzt blieb sie doch stehen, stemmte die Hände auf die Hüften und funkelte András wütend an. »Deine Arroganz ist passiert! Wozu hast du mich hierhergeschleppt, wenn du mich beim ersten interessanten Fund aus deinem Zelt jagst und von der Entdeckung ausschließt? Ich dachte, meine Kompetenz und meine Meinung sind dir ach so wichtig, aber damit scheint es ja nun wirklich nicht weit her zu sein!«
Professor Esubam war völlig perplex, starrte sie in einer Mischung aus Erschrecken und Faszination an. Die ganze Zeit über hatte Sarah sich passiv verhalten, ruhig und geduldig. Einen solchen Ausbruch hatte er nicht erwartet, schon gar nicht bei einer Sache, die er für eine Nebensächlichkeit hielt. Er setzte an, ihr zu antworten, aber sie fuhr ihm mit einer wütenden Geste über den Mund.
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