Im Nachhinein wusste die Engländerin kaum noch, was sie dazu bewogen hatte, diese Prostituierten umzubringen. Ihr damaliger Verlobter, Horatios Halbbruder Francis Gordon, war es sicherlich nicht wert gewesen, und es hatte auch kein einziges Problem gelöst. Sie musste zeitweise nicht bei Sinnen gewesen sein. Mit einem brüsken Kopfschütteln vertrieb Sarah die unnützen Gedanken und wandte sich an den Professor.
»Lass mir einen Tisch aufstellen, Fackeln und Öllampen darum herum. Ich brauche Licht, wenn ich den Körper untersuchen soll.«
Esubam hatte sich schon abgewandt, sah sie überrascht an.
»Untersuchen? Warum willst du ihn untersuchen?«
Sarah zuckte kurz die Achseln.
»Vielleicht verrät uns die Vorgehensweise mehr darüber, mit wem wir es hier zu tun haben. Offensichtlich waren es ja nun weder die Götter noch ein Anfall von Unlust, das Chaths Verschwinden ausgelöst hat. Jemand hat ihn geholt und umgebracht, wahrscheinlich dieselben Leute, die unser Lager überfallen haben. Die Warnungen werden deutlicher! Wenn du nicht einen Mann nach dem anderen verlieren willst, sollten wir uns wappnen.«
Auf dem Gesicht des dunkelhaarigen Mannes zeigte sich deutlicher Widerwillen.
»Hat das nicht Zeit bis morgen?«
»Nicht in diesen Temperaturen, bis morgen stinkt die Leiche.«
Sarahs Antwort war so emotionslos wie ihr Gesichtsausdruck und Esubam konnte nur einmal mehr staunen.
»ADIL!«, brüllte er und der hagere Ägypter, der direkt neben ihm gestanden hatte, zuckte heftig zusammen. »Sorg dafür, dass sie bekommt, was sie braucht!«
Zwei Stunden später kam Sarah in Esubams Zelt. Sie trug noch die Schürze, die sie sich umgebunden hatte, um Chaths Leiche zu untersuchen. Jetzt war das Kleidungsstück blutbesudelt und Sarah verkniff sich ein Grinsen, als sie den angeekelten Gesichtsausdruck des Professors sah. Sie zog die Schürze aus und legte sie zur Seite.
»Hol Adil«, verlangte die Rothaarige. »Ich brauche ihn, um manche Dinge deuten zu können.«
András rief den Ägypter widerspruchslos zu sich. So in ihrem Element strahlte Sarah Souveränität und ein Selbstbewusstsein aus, dem man sich schwer widersetzen konnte. Als sie sich sicher war, dass sie die Aufmerksamkeit beider Männer hatte, verkündete Sarah kühl und sachlich die Fakten.
»Ich bin mir nicht ganz sicher, woran Chaths letzten Endes gestorben ist. Er hat vor seinem Tod zahlreiche Verletzungen erlitten. Die Augen wurden ihm ausgestochen, die Zunge heraus- und die Lippen abgeschnitten, und man hat sein Gesicht gehäutet. Ich vermute, dass ihm danach die Genitalien abgetrennt wurden. Ob er noch gelebt hat, als ihm der Brustkorb geöffnet wurde, kann ich nicht genau sagen, der Blutverlust und der Schock von all den anderen Torturen kann mehr als genug gewesen sein, um ihn zu töten. Wenn er zu dem Zeitpunkt noch gelebt hat, dann jedenfalls nicht mehr lange. Als großes Finale wurde ihm das Herz herausgeschnitten. Das habe ich nicht bei seinem Leichnam gefunden, im Gegensatz zu den Genitalien. Die steckten im Anus.«
András und Adil waren bleich geworden und der Professor konnte die Abwehr in seiner Stimme nicht verbergen.
»Und abgesehen davon, dass ich auch ohne all das zu wissen sehr gut hätte leben können – was sollen diese Erkenntnisse uns jetzt über unsere Gegner sagen?«
Sarah erwiderte Esubams Blick ruhig.
»Das war mehr als nur eine Warnung. Das war persönlich. Ich bin ziemlich sicher, dass Chaths der Frau, Tochter oder Schwester seines Mörders etwas angetan hat. Sie vergewaltigt, entehrt, geschwängert und sitzengelassen … darauf deuten die abgeschnittenen Genitalien hin. Was es mit den anderen Verletzungen auf sich hat, der Abwesenheit des Herzens zum Beispiel, das weiß ich nicht. Deshalb wollte ich, dass Adil es hört. Welche Bedeutung hat das Herz im ägyptischen Glauben?«
Der Ägypter musste sich räuspern, um seine Stimme wiederzufinden.
»Sie haben ihm seine Identität genommen. Er kann so nicht ins Reich der Toten eingehen. Sein Gesicht ist zerstört und das Herz ist der Sitz der Seele. Die Mörder müssen auf jeden Fall dem alten Vielgötterglauben anhängen, ein Anhänger des Islam hätte in solchen Handlungen keinen Sinn gesehen.«
Er sah Esubam an.
»Ich glaube, Miss O’Leary hat Recht. Die Mörder müssen persönlich etwas mit Chaths zu tun gehabt haben. Doch das könnte ein Vorteil sein.«
»EIN VORTEIL!?«
Wieder einmal explodierte der Professor.
»WIE KÖNNTE DAS EIN VORTEIL SEIN?«
Adils Gesicht hatte langsam seine normale Farbe wieder angenommen und er gestikulierte heftig.
»Es waren vielleicht nicht dieselben, die unser Lager überfallen haben. Möglicherweise sind sie Chaths einfach von Luxor hierher gefolgt und haben ihn sich gegriffen und all das hatte gar nichts mit unserer Expedition zu tun.«
»Warum hätten sie ihn dann wieder zurückbringen sollen?«, gab Sarah zu bedenken. »Wenn es nur um Rache ging und nicht darum, uns einzuschüchtern, hätten sie seine Leiche einfach verschwinden lassen können. So hätten sie das Risiko, entdeckt zu werden, nicht zweimal eingehen müssen.«
»Hörst du das, Adil?«, fauchte András ungehalten. »Die Frau hat mehr Verstand im kleinen Finger als die ganzen Strauchdiebe da draußen, die du mir angeschleppt hast, zusammen! Ab sofort steht keiner mehr alleine Wache, KEINER! Hier wird niemand mehr unbemerkt verschwinden. Raus mit dir und teil die Leute neu ein. Ich werde kein weiteres Risiko eingehen.«
Kaum hatte Adil das Zelt verlassen, wandte András Esubam sich mit ernstem Gesicht an Sarah.
»Meine Verehrte, ich weiß, dass dir nicht gefallen wird, was ich als Nächstes zu sagen habe, aber ich kann dir hier kein Mitspracherecht gewähren, denn es geht um deine Sicherheit, und die liegt mir mehr am Herzen als alles andere. Du wirst in Zukunft das Zelt mit mir teilen.«
Henry und Andrew saßen noch immer in der Bar des Hotels. Ihr Alkoholpegel war mittlerweile recht hoch geworden.
»Sag mal, Henry, warum genau bist du eigentlich in Ägypten?«
»Nun ja, es hat mehrere Gründe. Zum einen, unsere Geldgeber für die Ausgrabungen machen sich Sorgen. In der letzten Zeit haben sich immer mehr dieser Abenteuer zu einem finanziellen Fiasko entwickelt. Es wurde viel Geld ausgegeben, aber die Erfolge waren eher mager.«
Andrew stutzte.
»Erfolge? Was für Erfolge meinst du?«
Henry rülpste leise.
»Stell dich nicht dümmer, als du bist. Es geht um Schätze, das weißt du doch.«
»Ja, klar. Und die kommen dann in ein Museum, oder?«
Henry lachte.
»Du bist Arzt, das merkt man immer wieder. Doch dafür, dass du ein intelligenter Mensch bist, stellst du dich echt dumm an. Du denkst allen Ernstes, die Leute, die das hier finanzieren, stellen das dann in ein Museum? Damit jeder Dahergelaufene sich das ansehen kann?«
Andrew sah seinen alten Freund an.
»Was denn dann?«
Henry kicherte.
»Na ja, ein Teil davon kommt schon in ein Museum. Aber nicht hier bei diesen unzivilisierten Wilden. Es kommt nach London. Und die wirklich guten Stücke, das Gold, den Schmuck, das beanspruchen die Finanziers für sich.«
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