»Lass dir eins gesagt sein, mein werter András – ich bin nicht wochenlang hierher in diese Hölle gereist, um mich dann von einem Mann bevormunden und klein halten zu lassen! Das hat mein Vater in London nicht geschafft und du wirst es mit Sicherheit auch nicht schaffen! Wenn du mich nur mit hierher genommen hast, damit du etwas Hübsches zum Anschauen hast oder dass ich dir die Schüssel halte, wenn du nach einem Sonnenstich kotzen musst, dann endet unsere Zusammenarbeit hier und heute auf der Stelle und ich fahre zurück nach England!«
Für eine Sekunde wusste András nicht, ob er vor ihr auf die Knie fallen und um Verzeihung betteln oder über ihr ungezügeltes Temperament lachen sollte. Da er jedoch befürchtete, Letzteres nicht zu überleben, griff er nach ihrer Hand, die sie ihm sofort wieder entzog und trotzig die Arme verschränkte.
»Sarah, verzeih mir! Bitte, beruhige dich doch. Ich bin es noch nicht gewohnt, eine Mitstreiterin an meiner Seite zu haben. Als ich den Fund gesehen habe, war ich so aufgeregt, dass ich um mich herum gar nichts mehr wahrgenommen habe. Ich wollte dich nicht verärgern, wirklich nicht!«
Der Blick aus seinen fast hypnotisierenden schwarzen Augen war aufrichtig und reuig, und Sarah spürte, wie ihre Wut schmolz. Knurrend verzog sie das Gesicht.
»Nun gut … in Zukunft beziehst du mich in alle Entdeckungen voll und ganz mit ein! Sobald ich merke, dass du mich auf irgendeine Weise ausschließt, bin ich weg!«
Als er diesmal ihre Hand griff und einen Kuss auf die Knöchel hauchte, zog sie sie nicht weg. Esubam war beruhigt und lächelte, bot ihr den Arm an.
»Es wird nicht wieder vorkommen, verehrteste Sarah. Komm, möchtest du dir anschauen, was wir entdeckt haben?«
Wieder versöhnt folgte sie ihm in sein Zelt, beugte sich über die kleine Steintafel, die von mehreren Öllampen beleuchtet wurde. Die Ecken waren abgesplittert, die eingeritzten Symbole und Zeichen verblasst, aber Esubam hatte anscheinend den Sand aus den Fugen gekratzt und sie deutlicher gemacht. Das Fundstück schien sehr alt zu sein. Mit zusammengekniffenen Augen beugte Sarah sich über die Tafel und studierte sie.
»Was siehst du?«, hörte sie Esubam flüstern. Seine Stimme klang begierig, zitterte sogar ein wenig.
»Ich sehe … einen Baum … einen Vogel. Und einen Hirtenstab.«
Sie deutete auf ein Symbol in der oberen rechten Ecke der Tafel.
»Das hier kann ich nicht zuordnen.«
»Es ist das ägyptische Symbol für Ra, also die Sonne«, erklärte der Professor. »Gut, weiter, was siehst du noch?«
Am rechten Rand neben dem Hirtenstab waren untereinander einige einfache Zeichen eingeritzt, die recht ähnlich wirkten. Behutsam fuhr Sarah mit der Fingerspitze darüber.
»Ich weiß nicht, was das sein könnte. Vielleicht Zahlen? Koordinaten oder Maßeinheiten?«
Esubam machte sich nicht die Mühe, seinen Enthusiasmus zu verbergen – auf die Idee war er selbst noch nicht gekommen in der Freude über den Fund. Er packte Sarah, die überrascht aufschrie, an der Taille und wirbelte sie herum.
»Siehst du, deswegen habe ich dich mitgenommen – weil du Dinge siehst, für die selbst ich zu verbohrt bin! Es könnten in der Tat Zahlen sein, und ich bin mir sicher, dass es in Luxor jemanden gibt, der sie uns in heutige Einheiten übersetzen kann. Sarah, weißt du, was das hier ist?«
Sie schüttelte verwirrt den Kopf, musste sich an ihm festhalten, weil die plötzliche Bewegung sie schwindelig gemacht hatte.
»Nein. Aber du wirst es mir sicherlich bald sagen!«
Der Professor strahlte, und die schwarzen Augen schienen zu glühen wie Kohlen.
»Das ist der Schlüssel. Der Schlüssel zum Grab des Nophta.«
Mittlerweile war die Abenddämmerung hereingebrochen. Die Schatten wurden länger, die ersten Fackeln entzündet. An der Grabungsstätte wurde es ruhig. Die Männer versammelten sich zum Essen, das sie gemeinsam einnahmen. Auch Esubam und Sarah gesellten sich dazu.
Nach einer guten Stunde wurden die Nachtwachen eingeteilt. Sarah ging zurück in ihr Zelt, und Horatio glaubte, die gierigen Blicke des Professors spüren zu können, der ihr hinterhersah. Dann war es dunkel. Auf einmal herrschte jedoch wieder helle Aufregung. Rufe schallten durch die Nacht, es wurden mehr und mehr Lichter entzündet.
Einige Männer erschienen, die etwas trugen. Horatio ahnte, was sie mit sich schleppten. Er lag ruhig da und beobachtete.
Esubam fluchte.
»Was zum Teufel ist denn jetzt schon wieder?« Er hatte gerade davon geträumt, dass Sarah bei ihm und auf ihm war. Dementsprechend mies war seine Laune über die Störung. Er zog sich eine Hose über und eilte aus dem Zelt, vor dem sich fast alle Männer versammelt hatten. Vor ihnen lag ein Bündel. Der Professor war sich nicht sicher, was es war, und trat näher heran, nahm sich eine Öllampe und leuchtete nach unten. Ein Fehler, wie sich schnell herausstellen sollte, denn im nächsten Moment überkam ihn ein gewaltiger Brechreiz, den er nur mit allergrößter Mühe unter Kontrolle bekam.
Es war Chaths. Zumindest vermutete er das, denn der Mann, der vor ihm auf dem Boden lag, hatte kein Gesicht mehr. Die komplette Haut war abgezogen worden, die Augen fehlten. Man hatte ihm die Lippen abgeschnitten, so dass die Zähne zu erkennen waren. Auch Ohren und Nase fehlten. Er spürte eine Bewegung neben sich.
»Sarah, nicht! Das ist nichts, was du sehen solltest.«
Es war ein absurdes Bild. Einige Männer waren auf die Knie gefallen beim Anblick der Leiche und flehten Allah an, andere waren davongestolpert und übergaben sich neben dem Lager. Selbst denen, die in unmittelbarer Nähe geblieben waren und den verstümmelten Körper anstarrten, war der Ekel ins Gesicht geschrieben. Und mitten unter ihnen stand die zierliche, rothaarige Sarah mit völlig ausdruckslosem Gesicht und betrachtete den Toten in einer Mischung aus Interesse und Faszination. Ihre Miene wandelte sich jedoch recht schnell zu Belustigung, als sie bemerkte, wie sehr András neben ihr um seine Beherrschung rang.
»Mach dich nicht lächerlich, András. Das ist nicht der erste Tote, den ich sehe. Dem tut nichts mehr weh.«
Sarah hatte nie den ersten Menschen vergessen, den sie hatte sterben sehen. Sie war damals zehn gewesen, war mitten in der Nacht aufgewacht, als man einen Mann ins Haus gebracht hatte, der schwer verbrannt gewesen und vor Schmerzen geschrien hatte. Sie war die Treppe hinunter und in die Praxis ihres Vaters geschlichen, der nicht viel für den armen Kerl hatte tun können. Die Verletzungen waren einfach zu schwer gewesen. Der Patient hatte zitternd auf der Untersuchungsliege gelegen, abwechselnd nach Luft gejapst und geschrien, bis er dann plötzlich ganz ruhig geworden war, noch bevor Andrew die Flasche mit dem Äther überhaupt in die Hand hatte nehmen können. Noch heute sah Sarah das Gesicht des Mannes vor sich, als er mit einem Ausdruck milden Erstaunens im Raum umherschaute, bevor seine Lippen sich zu einem entspannten Lächeln verzogen und er sein Leben ausgehaucht hatte. Seitdem hatte der Tod für Sarah jeden Schrecken verloren, und ebenso hatten Leichen für sie nichts Angsteinflößendes. Der Tod war die Erlösung. Was es zu bekämpfen galt, waren Schmerz, Krankheit und Leid. Aber auch die Toten konnten einem noch wichtige Informationen geben. Das hatte sie spätestens dann gelernt, als ihr Vater während der Ripper- Morde in London angefangen hatte, Autopsien für die Polizei durchzuführen. Der Gedanke, wie wohl ihr Vater reagieren würde, wenn er wüsste, dass der Ripper bei seinen Untersuchungen direkt neben ihm gestanden und zugesehen hatte, trieb ihr immer noch einen kalten Schauer über den Rücken. Sie wusste nicht, ob er das Gleiche wie Horatio getan hätte, der ihre Taten damals mit aller Gewalt vertuscht hatte. Andrew O’Leary war ein sehr korrekter Mann, und obwohl sie seine Tochter war, traute Sarah ihm zu, dass er sie an die Polizei verraten oder sie dazu genötigt hätte, sich zu stellen.
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