„ Wir fürchteten, dies würde dich überfordern.“
„ Warum haltet ihr mich andauernd für dermaßen beschränkt?“
„ Darum geht es nicht, Lilia. Dein bislang schwerster und bedeutendster Kampf findet in dir selbst statt.“
„ In der Tat“ , antwortete ich mit unheilschwangerem Unterton, „und ich sehe kein Ende. Die Mischung aus Elbe und Mensch birgt mehr Katastrophengeläut als zweieiige Zwillinge.“
Kein himmlischer Widerspruch.
Die Gunst der Stunde nutzend, begann ich, sie mit einem Stapel unbeantworteter Fragen vor mir her zu treiben. „War es zur Fürstenhochzeit überhaupt statthaft, dass sich die Elbenfürstin mit einem Menschen einließ?“
„ Belian trug wenig menschliches Erbe in sich, seine elbische Kühnheit wie Schönheit waren der Fürstin durchaus ebenbürtig.“
Plötzlich sah ich das magische Buch vor Augen. „Wieviele Elben befinden sich gegenwärtig auf der Erde?“
„ Mit Leya sind es 28.“
„ Wann wird ihr Bann aufgehoben?“ , fiel mir eine dringliche Frage außer der Reihe ein.
„ In der Neujahrsnacht.“
„ Wieviele Mischwesen existieren heute?“
„ Uns sind 15 bekannt.“
„ Und wo befindet sich das Nächste?“
„ In Schottland.“
„ Und muss Elins Tod zwangsläufig kommen, weil ich ihn voraussah?“
„ Ja und nein.“
Wie ich diese Auskunft liebte!
Die Sternelben hoben zu einem langatmigen Vortrag über die Spielarten des Schicksals an, bis ich kapitulierte.
„ Was nützt die Gabe des Sehens überhaupt?“ , fragte ich bockig weiter.
„ Du siehst wahre gegenwärtige Ereignisse. Dagegen kann die nahe Zukunft beispielsweise durch Dämonen gestört werden. Ferne Ereignisse erscheinen dir als Traumwarnung.“
Zu den Dämonen sollte ich den Sphärenchor ebenfalls löchern, doch für heute langte es. „Habt ihr noch Fragen?“
„ Bist du nun gnädiger gestimmt, Lilia?“
„ Gnädiger?“ Ich lachte bitter auf. „Euer Nimbus als Unfehlbare und Hüterinnen der reinen Wahrheit ist hinüber. Ihr müsst schleunigst lernen, wie ein Mensch tickt, sonst mündet euer Projekt in einer, zumindest irdischen, Vollkatastrophe.“
Hörte ich da tatsächlich ein vielstimmiges Seufzen?
Auch nach unserem Disput blieb mein Seelenschaden ungeflickt.
Aus dem Buch „Inghean“
Das Menschenkind beginnt, die richtigen Fragen zu stellen. Bald muss Lilia den einen, vorbestimmten Weg des Schicksals wählen.
Von meinem Ausflug nach Santa Christiana zurückgekehrt, wurde ich abermals mit der kalten Atmosphäre meines Gartenhauses konfrontiert. Aufmüpfig machte ich kurzen Prozess. Um die zwei Eingangssäulen wanden sich Tannengirlanden mit silbernen Leuchtsternen in den Zweigen. Die Tontöpfe rechts und links der Treppenstufen erhielten Gestecke mit silbernen Laternen darin. Auch die Balkonbrüstung oberhalb bekam eine Girlande mit roten Schleifen und weißen Lichtern, ebenso diverse Fensterbänke. Dann ging ich um das Haus herum und verpasste der Terrasse weitere Gestecke. Große Laternen mit dicken, roten Kerzenstumpen beleuchteten nun die dünne Schneedecke darauf.
Elins silbernes Lachen erklang. „Willkommen daheim!“
Mühsam schluckte ich einen Kloß im Hals hinunter „Warte erst mal ab, bis ich im Haus fertig bin.“ Und fügte automatisch hinzu: „Nach dem Essen.“
„ Du hast sie ins Kreuzverhör genommen“ , merkte Elin ernst an, während ich eine Schüssel voll Salat bearbeitete.
„ Nun, wenn du es so nennen willst. Jedenfalls ist die Zeit ihrer Winkelzüge und Märchenstunden vorbei – hoffe ich. Sie wissen, dass ich ihr Handeln gründlich hinterfrage. Und ebenso, dass ich sie im Stich lassen werde, wenn die Karten ab sofort nicht offen auf dem Tisch liegen. Egal, wie hoch mein Preis dafür sein sollte.“
Die Elbe erschrak über meine Worte. „Lilia, verkenne niemals ihre Macht!“
„ Nein, im Gegenteil, die Macht der Sternelben versagt auf der Erde. Wir drei allein werden hier in der Stadt auf dem Schicksalsseil balancieren.“
„ Wir drei?“ , fragte sie verwirrt.
„ Ja. Leya, du und ich.“
Elin guckte komisch.
„ Was ist denn?“
„ Ich dachte gerade an das naive Mädchen vor kaum einem Jahr. Aus meiner Schülerin ist meine Meisterin hervorgegangen.“
„ Ach, hör auf! Du bist Jahrhunderte ohne mich zurechtgekommen. Im Gegensatz zu mir benötigst du weder Ausbildung noch Rat.“
„ Was macht dich da so sicher, sehende Schwester?“ Sie erhob sich. „Die Arbeit ruft.“
„ Gib auf dich acht, Elin!“
Nach vollendeter Mahlzeit zauberte ich, wie angekündigt, die Innendekoration. Frisches Tannengrün, rote und blaue Weihachssterne, Dufthölzer, Kerzen in jeder Größe, was immer das Sortiment an plastikfreien Zutaten hergab. Zur Belohnung winkte ein Schaumbad.
Anschließend trat ich, quasi um Buße zu tun, eine Nachtschicht am Schreibtisch an. Eingekuschelt in meinen Bademantel, stürzte ich mich auf die ellenlange Liste unerledigter Fälle für Katja. „Die Arme muss inzwischen schier verzweifeln“ , gestand ich mir reumütig ein.
Mehrere Stunden später fehlte zum Schluss noch die mörderische Vorhersage für den kommenden Tag. Dieses Instrument entspannte die Lage zwischen den übrigen Kommissaren und mir deutlich. Meine anfängliche Praxis, ihnen allmorgendlich einen blutigen Prognosevortrag zum Kaffee zu servieren, hatte unausweichlich zu kollektivem Pulsrasen geführt. Schlicht zu ungesund. „So, fertig und senden.“ In meinem Geist hörte ich die Kriminalchefin über den unerwarteten eMail-Fund gleichzeitig lachen und weinen.
Bald würde die Morgendämmerung anbrechen.
Ich rief die Sternelben. „Wenn ich in diesem Augenblick wissen möchte, wo in der Stadt üble Machenschaften vor sich gehen, wie stelle ich das an?“
„ Dies ist dir unmöglich. Das Sehen all der Gewalt und Not zugleich würde dich in den Wahnsinn treiben. Hüte dich!“
„ Und die Alternative?“ , maulte ich ob der neuerlichen Einschränkung.
„ Du bekommst das Wissen von uns, wie gehabt.“
Autonomie ging anders. „Euer Rapport, bitteschön.“
Die alljährlich wiederkehrende Häufung von Diebstählen und Einbrüchen in der Vorweihnachtszeit produzierte aggressive Anspannung bei Dieben wie Ladenbesitzern.
Verständlich, dass der Inhaber eines Elektronikgeschäfts, vor dessen Laden ich eben aus dem Wagen stieg, nach der zweiten Totalplünderung seinem drohenden Ruin nicht länger tatenlos zusehen wollte. Aber deswegen gleich mit illegaler Pistole und Schlafsack in seinem Laden zu nächtigen, nun ja. Jedenfalls besaß der Einbrecher, der den Auftrag zur neuerlichen „Räumung“ ausführen sollte, ebenfalls eine Knarre. Mein Job, logisch: Blutvergießen verhindern, Täter festnageln.
Leider stellte sich der Inhaber als das größere Problem heraus. Ein ausgegorener Macho mit Phobie gegenüber Frauen – nur den intelligenten, versteht sich. Um vor dem Einbruch mit diesem Idioten rechtzeitig in die Pötte zu kommen, mussten unverschleierter Augenkontakt und obendrein Leuchteinsatz nachhelfen.
Äußerst knappe zehn Minuten später lagen Einbrecher und Inhaber derb fluchend nebeneinander.
Bis zum Sonnenaufgang sammelten sich auf der Habenseite vier unberechenbare Kriminelle, ein ausgebüxter Teenager, zwei vor dem Erfrieren gerettete Obdachlose, eine liebeskranke Selbstmörderin und ein im Pyjama umherirrender Rentner mit Alzheimer.
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