Kein normaler Mensch kam, so wie ich mittlerweile, auf Dauer mit maximal drei Stunden Schlaf aus. Über diesen Gedanken schlief ich ein.
Die Sternelben hetzten mich erneut los, kaum dass ich wieder im Berliner Hauptbahnhof einlief. Mein angeschwollener Lichthunger musste noch länger warten.
„Lilia, der Überfall auf den Supermarkt hat eine dramatische Wendung genommen. Sie brauchen dich.“
Noch vom Bahnsteig aus unterrichtete ich Katja. „Bin auf dem Weg. Ruf sofort Krankenwagen und Notarzt.“
Wie eine Furie raste ich aus der Tiefgarage des Hauptbahnhofs, nahm auf dem Großen Stern einem Lieferwagen die Vorfahrt, trat auf der Straße des 17. Juni das Gaspedal bis zum Anschlag durch, als mein Fahrstil der Besatzung eines Streifenwagens übel aufstieß. Mit jaulendem Blaulicht zwangen sie mich auf die Bremse.
„Katja, zwei Streifenkollegen wollen meinen Führerschein kassieren.“
„Gib dein Handy weiter.“
Kostbare Minuten gingen verloren. Endlich forderte mich der ältere Kollege auf: „Fahren Sie dicht hinter mir!“
Mit Blaulicht und Jauline trafen wir am weiträumig abgesperrten Supermarkt in der Schützenstraße ein.
„Bereiten Sie sich auf einen Bauchschuss vor“, befahl ich dem desinteressiert dreinblickenden Sanitäter des Krankenwagens im Vorbeilaufen. Katja kam mir entgegen gesprintet. Mit abwehrenden Händen keuchte ich: „Keine Zeit, alle in Deckung, sofort. Wartet, bis ich rauskomme.“
Kurz vor der gläsernen Eingangstür aktivierte ich ohne Stopp meinen Körperschutz und formte eine Blendkugel. Schon stürmte ich ins Innere des Supermarktes, pfefferte dem überraschten Täter die Kugel ins Gesicht, setzte nach, entwand ihm die Pistole und rammte fast gleichzeitig mein spitzes Knie in seinen Magen. Atemlos zauberte ich Handschellen für Hände und Füße herbei. Vorsichtshalber bekam seine Waffe einen Tritt gen Tür.
Der Filialleiter lag in seiner Blutlache, genau zwischen den zwei Kassen. Mit meinem jämmerlichen Restposten magischer Kraft mussten gut achtzig ohnmächtige Kilo behutsam auf die Arme genommen werden. So stolperte ich, Zähne zusammen gebissen, hinaus zum Krankenwagen.
„ Wird er es schaffen?“
„ Ja, gut gemacht, Lilia.“
„Lil?“ Katja steuerte, aschfahl im Gesicht, auf mich zu. „Du bist ein Engel! Aber du brauchst unbedingt Dienstausweis und Blaulicht.“
„Könnte mich irgendwer nach Santa Christiana bringen?“, flüsterte ich matt durch heftigen Schwindel.
Katja fing mich geistesgegenwärtig auf.
Als Björn mit seinem Dienstwagen den Parkplatz der Kirche erreichte, hing ich bewusstlos im Sicherheitsgurt. Ein Segen, dass Raimund just in diesem Moment ebenfalls sein Auto abstellte.
Mein Kollege stieg aus und sprach ihn ebenso ratlos wie hoffnungsvoll an. „Lilia sitzt ohnmächtig im Wagen.“
„Ich kümmere mich um sie, alles in Ordnung.“ Raimund trat an die Beifahrertür, löste meinen Sicherheitsgurt und hob mich heraus. „Fahren Sie ruhig, Lilia wird länger hier bleiben.“
Bei Björn stauten sich immer neue Fragen über mich auf, mehr noch als bei anderen Teammitgliedern. Restlos ausgepowert zog er kopfschüttelnd Leine.
Tief in der Nacht kam Raimund nochmals nach mir sehen. In bedauernd gebührendem Abstand zum sternelbischen Lichtkegel blieb er stehen. „Was machst du bloß für Sachen, Lilia? Als Racheengel durch die Stadt ziehen, du bist doch keine Superwoman.“
So, so, selbst bei ihm war der Groschen gefallen. „Raimund, ich habe keine Wahl. In dieser Stadt findet eine Schlacht statt, bei der Menschen die ersten Opfer sind.“
„Aber du bist selbst ein Mensch“, mahnte er voller Sorge.
„Ich fürchte, würdest du mich in Aktion erleben, dann kämst du zu einem anderen Schluss.“
Seine wichtigste Frage kam mit gärender Verzweiflung unterlegt heraus: „Sind sie gar keine Friedensstifter, sondern kriegerische Wesen?“
„Glaub mir, sie wünschen sich Frieden auf der Erde. Doch ihr mächtiger Feind vertritt nun mal gegensätzliche Ansichten“, lächelte ich verkrampft.
„ E rst Dienstag“ , registrierte ich fassungslos. In der Nacht hatte Tauwetter eingesetzt. An meinem Schreibtisch hockend hörte ich es in der Dunkelheit leise tropfen. Um 7 Uhr bugsierte ich den Tagesplan in Katjas virtuelles Postfach.
Kaum erledigt, meldeten sich die Sternelben gewichtig zu Wort: „Lilia, im Team rumort es.“
„Weswegen denn nun schon wieder?“
Da ich keine Lust verspürte, meinen Kopf anzustrengen, halfen sie notgedrungen aus. „Weil sie Menschen sind, begreifen sie dein Handeln nicht. Warum es dir offensichtlich möglich war, den Tod des Mädchens zu verfolgen. Wie du zum Beispiel erst gestern ohne Waffe und Schutzweste in den Supermarkt stürmen konntest. Und deine bekannt gewordenen Aufenthalte in der Kirche sorgen inzwischen ebenfalls für Gesprächsstoff.“
Natürlich kam dieses neuerliche Pulverfass mit einer gewissen Zwangsläufigkeit. Doch mein Gehirn meldete auch so schon volle Auslastung.
„ Morgen musst du mit ihnen reden.“
„ Erst morgen?“, sandte ich total erleichtert.
„ Rachel wird heute anwesend sein.“
Mit aufgesetzter Fröhlichkeit sang ich laut den Reim: „Morgen, morgen nur nicht heute, sagen alle faulen Leute.“
„ Lilia, bereite dich vor!“
„ Ja, ja.“
Als ich im sturmverwirbelten Nieselregen das Tor zur Straße schloss, traf ich Jay.
„Lil, gut dass wir uns sehen. Schorsch und ich haben uns gefragt, ob du Heiligabend bei uns verbringen magst.“
Gerührt über sein ehrlich gemeintes Angebot, obwohl die beiden sich riesig auf das erste zweisame Fest im neuen Zuhause freuten, antwortete ich ebenso ehrlich: „Total lieb von euch, aber ich habe ein volles Programm.“
„Etwa Weihnachten auch noch arbeiten?“, rief er entsetzt.
„Orgel spielen, unter anderem.“
„Du bist ‘ne Marke!“
„Und tschüss.“
Heiligabend verhieß für mich erstens ausschlafen. Zweitens wollte ich gerne zumindest für ein paar unglückliche Menschen den Weihnachtsengel spielen. Drittens möglichst keine Einsätze für die Lichtwesen erledigen müssen. Wobei, der Punkt gehörte eindeutig an die unverrückbar erste Position. Viertens zum krönenden Abschluss der wunderbaren Orgel in Santa Christiana die schönsten, je nach Geschmacksempfinden auch kitschigsten, Weihnachtslieder entlocken.
Putzmunter und bestens gelaunt fuhr ich in meinem Wagen der Arbeit entgegen.
An der vierten roten Ampel rappelte das Handy los.
John meldete sich. „Verflucht Lilia, wenigstens du bist erreichbar. Auf der Glaskuppel des Hauptbahnhofs turnt ein Selbstmörder herum.“
„Bist du dort?“
„Ja, und zwar allein mit einer Herde aufgescheuchter Bahnleute.“
„Ruhig Blut, ich beeile mich.“ „Schaffe ich das noch rechtzeitig?“
„ Das ist ungewiss, seine Emotionen sind kollabiert.“
„ Falls ja, was unternehme ich?“
„ Du musst zu dem Jungen auf das Dach gelangen.“
„ Ein Kind?“ , fragte ich entsetzt.
„ Ein Jugendlicher mit Liebeskummer.“
„ Und wo steckt seine Liebste?“
„ Sie ist mit einem Anderen in die Ferien geflogen.“
„ Ach du grüne Neune. Bleibt bloß auf Sendung!“
Die Lichtwesen lotsten mich im Hauptbahnhof über eine verborgene Montageleiter auf das gigantische, röhrenförmige Glasdach.
Nebenbei klingelte ich seine Ex-Freundin auf Mallorca aus dem Bett. „Marie, du hast Pierre verlassen. Bleibt es dabei?“
„Wer ist denn da?“ Verschlafen murmelte sie: „Das mit Micha und dem Mallorca Trip war ‘ne saublöde Idee.“
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