Auch Leo war geschockt von den Zuständen auf dem Zirbner-Hof und konnte für sich noch nicht einschätzen, wie er die einzelnen Familienmitglieder beurteilen sollte. Die alte Zirbnerin war eine Beißzange, das stand ohne Zweifel fest. Sepp Zirbner war von der Zeugin Schmied als gutmütig beschrieben worden, wozu auch das Verhältnis zu seinem Neffen Karl passen würde. Aber als er vorhin in die Wohnküche kam und mitbekam, wie derb Sepp Zirbner mit seiner Mutter umging und welches Gesicht er aufhatte, wurde das gutmütige Bild sehr angekratzt. Und Karl? Der bedauernswerte Junge hatte mit seinen 17 Jahren schon so viel Leid erlebt, was ihm sehr zu Herzen ging. Von der eigenen Mutter nicht nur verstoßen, sondern knapp davor, von ihr ins Heim gesteckt zu werden. Dann dieses unsägliche, lieblose Aufwachsen und Leben auf dem Hof, dazu die schwere Arbeit. Leo konnte verstehen, dass es dem Jungen die Sprache verschlagen hatte, obwohl er sich sicher war, dass er sprechen konnte. Er traute ihm die Tat am wenigsten zu, den anderen beiden schon.
„Träumst du? Ich habe gesagt, wir sind da.“
Sie standen vor einem hübschen Einfamilienhaus in Neuötting in der Trostberger Straße und klingelten. Auf dem Klingelschild stand Hauptmann/Petrovka. Eine junge, hübsche Frau öffnete.
„Sind Sie Ludmilla Petrovka?“
„Wer will das wissen?“
„Mein Name ist Leo Schwartz, Kriminalpolizei Mühldorf. Das ist mein Kollege Hiebler. Wir sind hier wegen einer Katharina Zirbner.“
„Ich bin Ludmilla Petrovka. Was ist mit Katharina? Ich habe schon versucht, sie zu erreichen, aber sie geht nicht an ihr Handy. Ist etwas passiert?“ Sie spürte sofort, dass etwas Schreckliches geschehen war, denn warum sonst sollte sich die Kriminalpolizei für Katharina interessieren? Und dazu noch die betroffenen Gesichter der beiden Männer! Ihr wurde übel.
„Milla, wer ist da?“, hörten sie eine männliche Stimme aus dem Haus.
„Die Polizei,“ rief sie zurück und bat die beiden mit einer Geste ins Haus. Sie gingen ins Wohnzimmer, in dem ein älterer Mann mit einer Decke über den Beinen im Ohrensessel saß und die beiden neugierig ansah.
„Das ist Konrad Hauptmann. Herr Schwartz und Herr Hiebler von der Kriminalpolizei, sie kommen wegen Katharina.“
„Setzen Sie sich bitte. Was ist mit dem Mädchen? Hat sie etwas angestellt?“
„Sie wurde gestern tot aufgefunden, sie wurde ermordet.“
Ludmilla war total geschockt, der alte Mann hielt ihre Hand.
„Entschuldigen Sie mich einen Moment,“ sagte Ludmilla bemüht gefasst und rannte nach draußen. Sie wollte allein sein und diese Nachricht verarbeiten. Es widersprach ihrer Erziehung, dass sie sich Fremden gegenüber gehen ließ und ihre Gefühle zeigte. Sie musste weinen und wollte allein sein. Diese schreckliche Nachricht musste sie begreifen und sacken lassen, dazu konnte sie keine Zuschauer gebrauchen. Katharina war tot! Hatte der große Polizist gesagt, sie wurde ermordet? Sie spritzte sich mehrmals kaltes Wasser ins Gesicht und legte Make-up auf. Sie brauchte noch einen Moment, bis sie wieder in der Lage war, zurückzugehen und mit den Polizisten zu sprechen. Sie musste unbedingt erfahren, was passiert war und wer ihrer Freundin das angetan hat.
Natürlich hatte der alte Mann die Blicke der beiden Beamten bemerkt, als Ludmilla vertraut neben ihm saß und er dann auch noch ihre Hand gehalten hatte. Er schmunzelte innerlich.
„Ich muss meine Ludmilla entschuldigen, sie kann mit Emotionen und Gefühlen vor anderen Menschen nicht umgehen und zieht sich lieber gerne für einen Moment zurück. Ich möchte inzwischen die Gelegenheit nutzen und die Situation hier gerne erklären, bevor Sie noch einen falschen Eindruck bekommen, der mir offen gestanden sehr schmeichelt. Ludmilla ist keineswegs meine Frau oder gar Geliebte. Ich habe sie ganz normal vor vier Jahren im Arbeitsamt kennengelernt, als ich auf der Suche nach einer Haushaltshilfe war. Wir saßen gemeinsam im Wartezimmer und kamen ins Gespräch. Sie hat erzählt, dass sie in Russland studiert hat und in ihrer Heimat keine Stelle als Lehrerin gefunden hat. Dann hörte sie vom goldenen Westen, nahm all ihren Mut zusammen und ging nach Deutschland. Während sie so offen und unbekümmert von sich erzählt hat, zog sie eine Brezel aus der Tasche und hat diese mit mir geteilt, einfach so, für sie war das selbstverständlich. Mich hat die Freundlichkeit, Offenheit und das warmherzige Wesen der Frau sofort beeindruckt. Was soll ich sagen? Ich habe diese hübsche, intelligente Frau sofort eingestellt. Und dieser Umstand ist für uns beide eine Bereicherung. Sie führt mir nicht nur den Haushalt, sondern leistet mir Gesellschaft und kümmert sich um mich, denn mein Gesundheitszustand wird immer schlechter – ich habe MS, also Multiple Sklerose. Ludmilla hilft mir wo sie nur kann. Sie beschwert sich nie und hat immer gute Laune. Sie sorgt dafür, dass ich rauskomme und am gesellschaftlichen Leben teilnehme. Seit einigen Monaten bin ich auf den Rollstuhl angewiesen, aber diese Tatsache wird von Ludmilla nicht bedauert, sondern sie macht einfach das Beste daraus und nimmt es hin. Sie hat mich sogar vor einem Jahr dazu überredet, ein behindertengerechtes Auto zu kaufen. Zuerst fand ich die Idee total verrückt, bis sie mir stolz ihren Führerschein präsentiert hat. Hat diese kleine Russin doch tatsächlich hinter meinem Rücken für mich den Führerschein gemacht! So etwas ist mir im ganzen Leben noch nicht passiert. Natürlich habe ich mich umgehend um das Fahrzeug gekümmert. Seitdem nimmt sie mich mit dem Rollstuhl überall mit, damit ich nicht depressiv werde und auf andere Gedanken komme. Wir sind längst über das Angestelltenverhältnis hinweg und inzwischen sind wir sehr gute Freunde. Meine undankbaren, raffgierigen Kinder, die sich seit dem Tod meiner Frau nur noch blicken lassen, wenn sie Geld brauchen, sind mir inzwischen fremd geworden. Und bevor Sie es von anderer Seite erfahren: ich habe Ludmilla als meine Erbin eingesetzt. Ich freue mich jetzt schon auf die dummen Gesichter meiner Kinder, wenn sie diese Nachricht von meinem Notar erfahren. Schade, dass ich das nicht miterleben kann. Ludmilla weiß nichts davon und darf es auch nicht erfahren, sie wäre nicht damit einverstanden. Für sie zählt die Familie sehr viel. Ein großer Teil ihres Einkommens geht regelmäßig an die Verwandtschaft nach Russland. Seitdem ich das weiß, mache ich Ludmilla ab und zu Geschenke, was mir sehr große Freude bereitet. Sie kann sich so sehr über Kleinigkeiten freuen, dass einem das Herz aufgeht. Mein Leben mit Ludmilla ist trotz meiner Krankheit so gut wie nie zuvor. Es tut mir in der Seele weh, dass sie unter dem Verlust ihrer Freundin zu leiden hat.“
Der Mann sprach ehrlich und offen. Trotz seines Schicksals hatte er ein sonniges Gemüt und einen Humor, den Leo sehr mochte. Endlich kam Ludmilla zurück. Sie hatte sich wieder beruhigt.
„Wer hat sie umgebracht?“, flüsterte sie.
„Das wissen wir noch nicht, deshalb sind wir hier.“
„Sie denken doch nicht, dass ich meine Freundin umgebracht habe? Sind Sie hier, weil Sie glauben, dass ich eine Mörderin bin?“ Ludmilla war entsetzt, aber Hauptmann beruhigte sie sofort.
„Die Polizisten wissen doch nicht, wer Katharina umgebracht hat. Und bis sie den Täter haben, ist jeder verdächtig, der mit ihr in Verbindung stand, so wie du und ich. Wir müssen mit der Polizei zusammenarbeiten, damit sie den Täter so schnell wie möglich festnehmen können.“
„Natürlich, du hast Recht. Entschuldigen Sie bitte. Stellen Sie Ihre Fragen.“
„Wann haben Sie Katharina Zirbner zum letzten Mal gesehen?“
„Das war vorletzte Woche. Wir waren gemeinsam im Kino und dann noch beim Essen. Danach haben wir noch eine Bar besucht, bis ich sie gegen 3.00 Uhr früh zuhause abgesetzt habe. Anfänglich hat sie sich fürchterlich über ihre Schwiegermutter aufgeregt, aber als sie sich ausgesprochen hatte, war sie gut gelaunt und wir hatten viel Spaß.“
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