„Prost Karl, ich bin der Leo. Eigentlich hätten wir uns nach der Arbeit ein Bier verdient.“
Karl nickte, ging zur Stalltür, spähte hinaus und schloss die Tür wieder. Dann ging er zu den aufgetürmten Strohballen und zog dahinter zwei Flaschen Bier hervor, die er mit den Zähnen gekonnt öffnete. Leo war baff, dieser Karl verstand wirklich jedes Wort.
„Du bist ein Engel, das ist genau das, was ich jetzt brauche.“ Wieder prosteten sie sich zu und nahmen beide einen kräftigen Schluck.
„Bist du traurig darüber, dass die Kathi tot ist?“
Karl nickte heftig, während er ständig auf den Boden blickte. Obwohl Karl seinen Blicken auswich, konnte er sehen, dass sich seine Augen mit Tränen füllten.
„Hat die Kathi jemals von jemandem gesprochen, der böse zu ihr war?“
Karl schüttelte den Kopf.
„Weißt du, was Kathi mit Fasching zu tun hatte?“
Karl zuckte mit den Schultern und sah immer noch auf den Boden.
„Ich gebe dir hier meine Karte. Wenn dir etwas einfällt, kannst du mich jederzeit anrufen. Ich bin mir sicher, dass du sprechen kannst. Aber wenn du nicht willst, ist das für mich in Ordnung. Du kannst mich auch jederzeit in meinem Büro in Mühldorf besuchen. Kennst du die Polizei in Mühldorf?“
Wieder nickte Karl, diesmal kaum merklich.
„Hast du Geld?“
Jetzt schüttelte er beinahe verschämt den Kopf. Leo war sauer. Bekam Karl keinen Lohn für seine Arbeit? Er nahm seinen Geldbeutel und drückte ihm einen 50 €-Schein in die Hand. Karl sah ihn jetzt verstört an und schüttelte den Kopf, er wollte das Geld nicht annehmen, er fühlte sich nicht wohl dabei.
„Das ist für ein Taxi nach Mühldorf, nur für den Fall, dass du mich besuchen kommst. Nimm das Geld und steck es weg, damit es deine Großmutter nicht findet.“
Leo zwinkerte ihm zu, trank sein Bier aus.
„Ich muss wieder gehen Karl. Danke für das Bier. Und es ist in Ordnung, wenn du weinen musst, auch ich weine, wenn ich traurig bin.“
Leo hatte die Stalltür noch nicht ganz geschlossen, als er hörte, wie Karl hemmungslos weinte.
Hans war sehr erleichtert, als Leo in die Küche kam, denn die Streitigkeiten zwischen Sohn und Mutter arteten langsam aus und waren unerträglich. Nach anfänglicher Zurückhaltung warf nun auch Sepp Zirbner mit allen möglichen Schimpfwörtern um sich, von denen selbst Hans als Einheimischer viele nicht kannte und viel zu anständig dafür war, sie in den Mund zu nehmen. Auch die Lautstärke zwischen den beiden stieg und stieg; schließlich schrien sich die beiden nur noch an. Hans stand abseits und wäre am liebsten gegangen, aber er musste hierbleiben, um sicherzugehen, dass sich Leo ungestört mit dem Jungen unterhalten konnte. Die beiden sahen dem Streit einige Minuten zu und konnten nicht fassen, wie Mutter und Sohn miteinander umgingen. Sie waren so sehr mit sich und ihrem Streit beschäftigt, dass sie alles um sich herum vergaßen. War der Umgang zwischen den beiden normal? Wie musste sich Katharina Zirbner dabei gefühlt haben? Und Karl? Wie ging es dem Jungen damit, der quasi damit aufgewachsen war? Sprach er deshalb kein einziges Wort? Das wäre zumindest eine Erklärung.
„Ruhe!“, musste Leo mehrmals brüllen, bis die Zirbners ihn überhaupt wahrnahmen. „Schämen Sie sich eigentlich nicht? Sie sind beide erwachsen und führen sich hier auf wie Verrückte! Jetzt beruhigen Sie sich gefälligst! Das ist ja nicht zum Aushalten!“ Beide waren endlich still. Leo starrte die beiden böse an und schüttelte den Kopf. „Na also, geht doch! Was bekommt Karl für seine Arbeit? Sie bezahlen ihn doch ordentlich?“
Statt einer Antwort stand Sepp Zirbner auf und deutete Leo an, ihm zu folgen. Die alte Zirbnerin merkte, dass ihr Sohn nicht vor ihr sprechen wollte, und wollte hinterher, aber Hans hielt sie zurück. Er hatte genug von dem ganzen Theater und um nichts in der Welt würde er die Alte an sich vorbei lassen. Er würde auch nicht davor zurückschrecken, sie mit Handschellen am Ofen zu fixieren. Offenbar spürte Frau Zirbner seine Entschlossenheit und setzte sich zähneknirschend, wobei sie vor sich hin schimpfte, diesmal aber in erträglicher Lautstärke; etwas anderes hätte Hans auch nicht ungestraft durchgehen lassen. Was trieb ihr Sohn hinter ihrem Rücken? Der Polizist sprach von einem Lohn, der Karl bezahlt werden soll! Bekam der blöde Karl für seine Arbeit tatsächlich Geld, von dem sie nichts wusste? Sie rutschte unruhig auf ihrem Stuhl hin und her. Liebend gerne wäre sie aufgesprungen und ihrem Sohn und dem Langen hinterher, aber dieser parfümierte Schnösel stand direkt vor ihr und ließ sie nicht vorbei. Frau Zirbner war sauer. Sie hatte keine Wahl und musste hier verharren. Dann musste sie eben aus dem blöden Karl irgendwie herausbekommen, was da hinter ihrem Rücken mit dem Geld ablief!
Leo und Sepp Zirbner gingen in den ersten Stock ins Schlafzimmer. Im Schrank hinter den Pullovern seiner Frau zog er ein Sparbuch hervor.
„Karl bekommt von mir kein Geld, weil es ihm meine Mutter sowieso gleich wieder abnimmt. Anfangs habe ich natürlich ganz offiziell ein Gehalt bezahlt und es hat lange gedauert, bis ich dahinter gekommen bin, dass meine Mutter es sofort kassiert. Seitdem zahle ich jeden Monat einen Betrag auf ein Sparbuch ein, damit der Junge Geld hat, wenn er es braucht. Sie können das gerne überprüfen. Hier ist das Sparbuch.“
Leo schlug das Sparbuch auf und tatsächlich zahlte Sepp Zirbner jeden Monat 1.000 € auf das Sparbuch ein. Er pfiff durch die Zähne, als er die Gesamtsumme las.
„Bitte behalten Sie das mit dem Sparbuch für sich. Meine Mutter flippt aus, wenn sie davon erfährt. Der Karl weiß natürlich davon, das ist unser Geheimnis. Und wenn Sie das jetzt öffentlich machen, bekommen auch das Finanzamt und die Berufsgenossenschaft Wind davon - und dann geht der Ärger erst richtig los.“
„Von mir erfährt niemand was, das geht mich nichts an. Ich finde es anständig, dass Sie den Jungen bezahlen.“
„Natürlich, ich bin doch kein Unmensch. Der Karl ist fleißig und ordentlich, er jammert nie und ich kann immer auf ihn zählen. Und dafür hat er auch einen Lohn verdient.“
Endlich konnten die Beamten wieder von hier weg. So schnell wie möglich lenkte Hans den Wagen vom Hof. Ihr nächstes Ziel war die Freundin Ludmilla, die in Neuötting wohnte.
„Diese Alte ist die Pest,“ schimpfte Hans auf dem Weg zu ihrem nächsten Ziel. „Was soll der Sohn machen? Wenn das mit dem Erbvertrag stimmt, muss er seine Mutter bis zu ihrem Tod im Haus behalten, versorgen und vor allem ertragen. Ich könnte das nicht, ich glaube, ich wäre längst ausgeflippt. Von morgens bis abends dieses Gezeter und Beschimpfungen. Dazu kommt noch, dass die Alte überall dafür sorgt, dass die eigene Familie im schlechten Licht steht, das ist doch der reinste Horror. Bevor ich so ein Leben führe, würde ich lieber auf den Hof und auf alles Geld der Welt verzichten, Pflichtbewusstsein hin oder her. Der reine Wahnsinn, wie ein Mensch allein einem das Leben so zur Hölle machen kann. Dabei ist der Hof nicht übel, sauber und ordentlich. Sepp Zirbner ist sehr fleißig und seine Einstellung der Hofführung ist sehr lobenswert. Klar ist das auf dem Hof sehr viel Arbeit, das kenne ich von meinen Eltern und von einigen Freunden, aber wenn man mit Freude an die Sache rangeht und das Umfeld stimmt, dann macht einem die Arbeit nicht ganz so viel aus. Außerdem stimmt auch das Einkommen, wenn man gewieft ist und gute Absatzkanäle hat. Und so, wie der Hof in Schuss ist, versteht der Zirbner was von seiner Arbeit. Ich muss den Hut vor ihm ziehen, denn diese Hofgröße bedeutete eine Riesenarbeit für so wenige Leute. Und jetzt fehlt durch den Tod der Frau eine Arbeitskraft. Trotz allem hat der Zirbner doch die Arschkarte Platin gezogen: Der Tod seiner Frau, die Verantwortung für Karl, die viele Arbeit und dann noch dieser Drachen von Mutter, die einem den ganzen Tag die Hölle heiß macht.“ Ihn schüttelte es bei dem Gedanken.
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