„Austritt aus der Schwingung, Herr“, meldete die ausführende Hand der Seher. Der Norsun nannte hastig die erfassten Werte und fügte hinzu: „Es ist ein Schiff der Flachschlitz-Nasen, Herr, und es ist ein neues.“
„Jagdsicht!“, befahl Hen-Talar.
Eine Schaltung verwandelte die Panoramascheibe vor ihm in einen riesigen Bildschirm, der das Objekt vor dem Bug in starker Vergrößerung wiedergab.
Das typische helle Blau der Panzerung eines Negaruyen war unverkennbar. Im Gegensatz zu den glatten Hüllen der Hanteln waren in dem walzenförmigen Körper die zahlreichen Fugen zu erkennen, wo die Bauteile aneinander stießen. Während die alten Walzenschiffe einen zylinderförmigen Mittelteil mit halbkugelförmigen Enden an Bug und Heck aufgewiesen hatten, zeigte dieses Schiff der neuen Baureihe ein deutlich verändertes Design. Der zweihundertvierzig Meter lange und dreißig Meter durchmessende Rumpf wirkte schlanker. Am Bug und in der Mitte befanden sich wulstige Verdickungen, am Heck ein kantiger Kranz, der die Haupttriebwerke beinhaltete. Der bauchige Bug enthielt ein schwächeres Triebwerk, welches die Manövrierbarkeit erhöhte, die Verdickung in der Mitte barg das Kommandozentrum. Unter dem Rumpf, am Ende des vorderen Drittels, war die Kuppel sichtbar, welche die gefährlichste Waffe der Negaruyen enthielt: Den Zersetzer.
Jeder raumfahrende Norsun kannte dessen zerstörerische Wirkung. Niemand konnte bislang sagen, ob es sich dabei um Partikel, eine reine Strahlungsenergie oder sogar Sporen handelte. Man wusste nur, dass der Zersetzer, dort, wo er die Hülle eines Hantelschiffes traf, seinem Namen gerecht wurde. Je nach Intensität zerfiel der Rumpf an der getroffenen Stelle sofort zu Staub oder es breitete sich von dort eine Art Metallfraß aus, der sich rasch über das Schiff ausdehnte. In letzterem Fall gab es noch Hoffnung für die Besatzung, auch wenn sie nicht von einem anderen Schiff aufgenommen werden konnte, da man fürchtete, der Metallfraß könne sonst übertragen wurde. Man konnte jedoch die sogenannte Quarantäne-Welt anfliegen. Mit etwas Glück und genügend Zeit landete man dort, überließ das Schiff seinem Ende und wurde von speziellen Bergungseinheiten an Bord genommen. Es gab nicht wenige Schiffe, die inzwischen von diesem Schicksal ereilt worden waren.
Hen-Talar hatte nur eine Chance, die Kandahaar vor ihm zu bewahren: Den Feind vernichten, bevor dieser zurückschlug. Jene Zeit nutzen, in der er hilflos war und nur die wenigen automatischen Verteidigungssysteme seines Schiffes aktiv werden konnten.
„Ausführende Hand des Schiffes, gehe auf maximale Geschwindigkeit und gehe in Gefechtsposition! Ausführende Hand der Stecher, auf maximale Entfernung stechen! Versuche die Kuppel des Zersetzers zu treffen!“
Bevor die Negaruyen die verheerende neue Waffe entwickelt hatten, kämpften die Hantelschiffe mit dem Bug voran. So boten sie ein kleineres Ziel. Der Zersetzer zwang sie zu einer neuen Taktik: Dem Feind die Breitseite zuzuwenden. Traf der Gegner nämlich den Bug in Längsrichtung, so raste die Zerstörung unaufhaltsam durch das gesamte Schiff. Traf er hingegen nur einen Teil der Breitseite, so breitete sich die Verheerung nur langsam aus und es bestand die Hoffnung, die Besatzung mit Kleinschiffen zu retten oder das dem Untergang geweihte Schiff noch rechtzeitig auf der Quarantäne-Welt zu landen.
Der Kreuzer nutzte seine beiden Haupttriebwerke, um nun zu schwenken und raste mit der Breitseite auf das Walzenschiff zu. In seiner Hülle öffneten sich die Luken, aus denen die Dorne der Projektoren hervor glitten. Der Waffenoffizier der Kandahaar wusste, dass die goldene Energie, in Form der energetischen Wand, nicht gegen den Zersetzer schützte. Er verzichtete darauf, sie zu errichten. Stattdessen programmierte er die Projektoren darauf, aus maximaler Entfernung den Strom goldener Energiekugeln zu formen und, wenn die Kandahaar nahe genug am Feind war, mit den tödlichen Energietentakeln zuzustoßen.
Das Schott zur Zentrale öffnete sich und Sker-Lotar trat ein. Die Hand des Wissens hatte während eines Gefechtes keine feste Position, konnte sich frei bewegen und trug daher den geschlossenen Raumanzug. Man spürte seine Unsicherheit, da er nicht wusste, warum er in die Zentrale befohlen worden war. Eigentlich hatte er hier nichts zu suchen, zumal er nicht ahnte, dass das Hoch-Wort der Kandahaar in ihm einen Seelenverwandten sah. Obwohl Sker-Lotar nur ein einfacher Wissender war, sehnte auch er sich nach neuer Erkenntnis.
„An meine Seite, Sker-Lotar“, sagte Hen-Talar freundlich. „Da du eine Hand des Wissens bist, will ich deine persönliche Meinung zu dem hören, was deine Sinne nun erleben werden.“
Der junge Norsun war nervös, während er an die Seite seines Kommandanten trat. „Meine Sinne können nur unvollkommen wiedergeben, was die Sinne unserer Seher aufzeichnen werden.“
„Wie du es sagst, so werden die Sinne unserer Seher die Ereignisse aufzeichnen.“ Hen-Talar trug zwar den Helm seines Raumanzuges offen, hatte dessen Stachelfutteral hingegen geschlossen. Er bedauerte in diesem Moment, keine beruhigenden Pheromone absondern zu können. „Doch bei allen Fähigkeiten unserer bionischen Instrumente bleibt es an uns Norsun, ihre Daten richtig zu interpretieren.“
„Ausführende Hand der Stecher an das Hoch-Wort: Wir sind fast auf Stechentfernung heran, doch ich sehe Anzeichen dafür, dass die Flachschlitz-Nasen aus der Schwingungsstarre erwachen.“
Sker-Lotar versteifte sich ein wenig. Hen-Talar glaubte die Furcht des jungen Wissenschaftlers körperlich zu spüren. Auch seine eigene Anspannung stieg, denn wenn es den Negaruyen gelang, ihren Zersetzer einzusetzen…
„Ich steche“, kam es knapp und sachlich vom Waffenoffizier.
Auf der kristallinen Panoramascheibe vor Hen-Talar wurde die Sicht der Zielerfassung projiziert. Das helle Blau des Walzenschiffes stand unverrückbar im Zentrum einer Reihe von grünen Pfeilen. Grün war die Farbe des Blutes der Norsun und diente als Warnfarbe oder, wie hier, der Zielerfassung.
Goldenes Flirren verwischte das Bild, als die Projektoren der Kandahaar einen dichten Strom von goldenen Energiekugeln auf den Feind entließen. Aus dem Flimmern wurden scharfe Konturen, als sich die ballartigen Objekte mit Lichtgeschwindigkeit entfernten und auf die Walze zurasten. Kurz bevor sie auf deren Rumpf trafen, löste sich von dort ein grün schillernder Strahl von der Waffenkuppel.
„Auf Zersetzung vorbereiten!“, schrie Hen-Talar instinktiv. „Ausführende Hand des Schiffes: Fluchtmanöver!“
Der Pilot riss die Kandahaar aus dem bisherigen Kurs. Weiter beschleunigen konnte er nicht, da der Kreuzer bereits mit höchster Geschwindigkeit flog. Keiner der Norsun in der Zentrale, vom Waffenoffizier abgesehen, achtete noch auf das feindliche Schiff. Alle verfolgten den grünen Schimmer, der sich mit Überlichtgeschwindigkeit näherte, da beide Gegner noch immer aufeinander zu flogen. Für die Kursänderung waren nur wenige Augenblicke verfügbar.
Es reichte nicht, um der verheerenden Waffe zu entkommen.
Es gab keine Erschütterung. Nur das durchdringende Pfeifen des Alarms und eine Reihe blutgrüner Warnlichter, die an der Systemkontrolle aufblitzten.
Die Kandahaar wurde an der Bugkugel getroffen, ein gutes Stück abseits der Zentrale.
An der getroffenen Stelle wurde die grüne Panzerung schwarz und zerfiel zu Staub. Der Zerfall dehnte sich rasch über benachbarte Sektionen und in das Innere des Schiffes aus. Decken, Wände, Einrichtung und Maschinen lösten sich ebenso auf, wie Raumanzüge und Bekleidung der unglücklichen Norsun, die sich im Bereich des Zersetzers befanden. Die Leiber der Besatzung wurden verschont, was bei dem entstehenden Druckverlust jedoch keine Rolle spielte.
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